Diese Frage ist fundamental. Sie beruht auf der (korrekten) Beobachtung, dass Sätze in meiner, Hegels, Philosophie wie „Sein ist Nichts“ (aus der Logik) oder „Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee“ (aus den Grundlinien) für die formale Logik absurd klingen.
Die formale Logik (der „Verstand“) wirft mir vor, zwei völlig verschiedene Bedeutungen von „ist“ zu verwechseln:
- Das „ist“ der Prädikation: „Der Himmel ist blau.“ (Einem Subjekt wird eine Eigenschaft zugewiesen.)
- Das „ist“ der Identität: „Berlin ist die Hauptstadt von Deutschland.“ (A = B)
Der Vorwurf lautet: Wenn ich „Sein ist Nichts“ sage, behandle ich eine Prädikation („Sein hat die Eigenschaft, Nichts zu sein“) wie eine Identität („Sein = Nichts“), was logischer Unsinn ist.
Dieser Vorwurf verfehlt jedoch mein gesamtes Projekt.
1. Das „ist“ des Verstandes ist statisch
In der Logik, die Sie gewohnt sind, ist der Satz eine Beschreibung eines Zustands.
- Im Satz „Der Himmel ist blau“ bleibt das Subjekt („Himmel“) das, was es ist. Es „hat“ eine Eigenschaft („blau“). Das Subjekt ist der ruhende Träger.
- Das „ist“ ist hier ein lebloses Bindeglied zwischen zwei fixen Bestimmungen.
2. Das „ist“ der Vernunft ist dynamisch (spekulativ)
Meine Philosophie ist keine Beschreibung von Zuständen, sondern die Darstellung einer Bewegung. Der spekulative Satz (siehe Glossar) ist kein Behälter für eine fixe Wahrheit, sondern der Motor des Gedankens selbst.
Wenn ich (im entsprechenden philosophischen Zusammenhang) „ist“ verwende, meine ich nicht (oder nur selten) „hat die Eigenschaft“, sondern:
- „…geht über in…“
- „…schlägt um in…“
- „…erweist sich als…“
- „…hat seine Wahrheit in…“
Das entscheidende Beispiel: „Sein ist Nichts“ (§ 87, Logik/Enzyklopädie)
- Das bedeutet nicht: „Die Kategorie ‚Sein‘ hat die Eigenschaft ‚Nichts‘.“
- Es bedeutet: „Das reine, unbestimmte Sein, wenn man es konsequent denkt, verschwindet in seiner reinen Unbestimmtheit und erweist sich als (ist identisch mit) dem reinen Nichts.“
Das Subjekt („Sein“) bleibt nicht, was es war. Es löst sich auf im Prädikat („Nichts“). Das „ist“ ist hier der Name für diese Bewegung, diesen Übergang.
3. Anwendung auf die Rechtsphilosophie
Das Gleiche gilt für die Grundlinien.
- Wenn ich sage: „Das Abstrakte Recht (siehe Glossar) ist die erste Stufe der Freiheit“, meine ich nicht nur, dass es eine Eigenschaft ist.
- Wenn ich sage: „Das Unrecht (siehe Glossar) ist der Widerspruch des Rechts“, meine ich: Das Recht (die Thesis) produziert notwendig seinen eigenen Widerspruch (die Antithesis) und geht in ihn über.
- Wenn ich sage: „Der Staat (siehe Glossar) ist die Wirklichkeit der Freiheit“, meine ich: Die Freiheit (das Subjekt) kommt in der Institution des Staates (dem Prädikat) zu sich selbst und wird real. Der Staat ist das Resultat der Bewegung der Freiheit.
Fazit:
Ich habe die Kopula nicht „missverstanden“. Ich habe ihre „statische“ Funktion als unzureichend für die Philosophie (die das Leben und die Bewegung des Begriffs erfasst) erkannt.
Sie müssen meine Texte nicht mit der Annahme lesen, die Sätze seien „wahr“ oder „falsch“ im Sinne der formalen Logik. Sie müssen sie als die Darstellung eines Prozesses lesen. Das „ist“ ist der Funke, der den Motor des Widerspruchs (siehe Glossar) zündet und den Gedanken zur nächsten Stufe treibt.
