„Als Marxist lese ich Hegel – aber er ist doch Idealist, überholt und hat die Realität (insbesondere die Verelendung) nicht gekannt, oder?“
Ihre Position ist der beste Ausgangspunkt für die Lektüre. Sie kommen, um das Fundament der Kritik zu verstehen. Sie werden feststellen, dass Marx mir, Hegel, nähersteht, als Sie vielleicht ahnen, und dass viele Ihrer Einwände auf einem (verständlichen) Missverständnis dessen beruhen, was mein Absoluter Idealismus (siehe Glossar) überhaupt ist.
1. „Hegel ist Idealist, Marx Materialist. Marx hat ihn vom Kopf auf die Füße gestellt.“
Dies ist der berühmteste Slogan, aber er verdeckt mehr, als er enthüllt.
- Mein „Idealismus“ ist kein „Mystizismus“. Er bedeutet nicht, dass die Welt nur „in meinem Kopf“ existiert oder von einem „Gott“ (im religiösen Sinne der Vorstellung, siehe Glossar) gesteuert wird.
- Mein Idealismus ist Realismus: Er besagt, dass die Wirklichkeit vernünftig ist (siehe Glossar). Das heißt: Die Welt (die „Materie“, die Gesellschaft, die Geschichte) ist logisch strukturiert. Sie ist kein chaotischer Haufen von Dingen. Sie entwickelt sich nach immanenten Gesetzen – nach Widersprüchen (siehe Glossar).
- Was hat Marx getan? Er hat diese Methode (die Dialektik des Widerspruchs) genommen und sie nicht auf den Geist (wie ich im Großen), sondern spezifisch auf die materiellen Produktionsverhältnisse angewandt. Er hat nicht „Idealismus“ durch „Materialismus“ ersetzt; er hat meine Logik (siehe Glossar) auf die Ökonomie angewandt. Das Kapital ist ein zutiefst „Hegelsches“ Buch; es ist die Logik des Kapitals.
2. „Hegel kannte die Verelendung des Industriezeitalters nicht. Er ist überholt.“
Dies ist, mit Verlaub, der fundamentalste Irrtum über die Grundlinien der Philosophie des Rechts.
Ich war der erste Philosoph, der die notwendigen Widersprüche der modernen Marktwirtschaft (die ich „Bürgerliche Gesellschaft“ nenne) analysiert hat.
Wenn Sie die Grundlinien lesen, werden Sie im Dritten Teil (§ 243-246) Sätze finden, die Sie für Zitate von Marx halten könnten:
- Die Notwendigkeit der Armut: Ich zeige, dass die Bürgerliche Gesellschaft (siehe Glossar) durch ihre eigene innere Dynamik (die Jagd nach Reichtum) notwendig Armut erzeugt. Die Armut (siehe Glossar) ist kein „Zufall“ und kein „Pech“, sondern ein strukturelles Resultat des Systems.
- Die Entstehung des „Pöbels“: Ich gehe noch weiter. Ich analysiere nicht nur die materielle Armut, sondern ihre geistige Folge: den Pöbel (siehe Glossar). Der Pöbel ist nicht einfach „der Arme“, sondern der Mensch, der durch die Armut sein sittliches Band zur Gesellschaft verloren hat – seine Ehre, sein Rechtsgefühl, seine Anerkennung. Er ist das, was Marx später Entfremdung (siehe Glossar) nennt – ein Begriff, den ich schon in der Phänomenologie des Geistes verwandt habe.
- Die Aporie des Systems: Ich zeige offen, dass die Bürgerliche Gesellschaft dieses Problem nicht lösen kann. Sie produziert den Pöbel, aber jedes Mittel dagegen (z.B. Almosen, Steuern) scheint das Problem nur zu verschlimmern.
Marx hat meine Analyse der Unauflöslichkeit dieses Widerspruchs nicht widerlegt; er hat sie zur Grundlage seiner Revolutionstheorie gemacht. Ich habe die Krankheit diagnostiziert; Marx hat die Operation gefordert. Sie können mich also nicht als „überholt“ abtun – ich habe die Landkarte gezeichnet, auf der Marx seinen Weg gesucht hat.
3. „Hegel will die Welt nur interpretieren, Marx will sie verändern.“
Das ist die berühmte 11. Feuerbach-These. Sie ist wahr, aber sie ist kein Gegensatz.
- Man kann die Welt nicht vernünftig verändern, die man nicht begriffen hat. Ein Arzt, der den Körper nicht interpretiert (diagnostiziert) hat, kann ihn nicht verändern (heilen) – er schlachtet ihn bloß.
- Mein Satz von der Eule der Minerva (siehe Glossar) – dass die Philosophie „Grau in Grau“ malt und zu spät kommt – bedeutet: Die Philosophie begreift die Struktur einer Welt, die geworden ist.
- Genau das ist passiert: Ich habe die Struktur des bürgerlichen Staates und seiner Widersprüche begriffen. Marx hat diese Interpretation gelesen und daraus den praktischen Schluss zur Veränderung gezogen. Meine Interpretation war die notwendige Voraussetzung für seine Veränderung.
4. „Vielleicht verstehe ich da ja endlich, was die Dialektik ist?“
Genau das. Das ist der Lohn der Lektüre.
Marx wendet die Dialektik (siehe Glossar) brillant an. Aber er erklärt sie nicht grundlegend. Er setzt sie voraus.
- Ich erkläre sie. In der Rechtsphilosophie werden Sie sehen, wie Dialektik funktioniert, Schritt für Schritt:
- Sie werden sehen, wie der Begriff „Eigentum“ (die Thesis) notwendig zu seinem eigenen Widerspruch, dem „Unrecht“ (die Antithesis), führt.
- Und wie dieser Widerspruch notwendig gelöst (aufgehoben) wird in der „Strafe“ oder, auf höherer Ebene, in der „Moralität“ (der Synthese).
Sie werden in den Grundlinien das „Betriebssystem“ der Dialektik kennenlernen, das Marx dann für seine Analyse der Ware, des Geldes und des Kapitals verwendet hat.
Zusammenfassend: Sie lesen mich nicht trotz Marx, sondern um Marx (und mich) erstmals wirklich zu verstehen. Sie werden einen „Idealisten“ entdecken, der „realistischer“ und widersprüchlicher über die bürgerliche Gesellschaft geurteilt hat als die meisten Materialisten seiner Zeit.
vgl. dazu auch:
Hans Friedrich Fulda, „Dialektik als Darstellungsmethode im „Kapital“ von Marx„, in Ajatus, Helsinki 1978, S. 180-216
sowie:
