Ist es nicht naiv, von Freiheit (und Verantwortung) auszugehen? Die Hirnforschung beweist doch, dass unser Gehirn schon handelt, bevor wir uns ‚frei‘ entscheiden.

Das ist einer der wichtigsten und tiefgründigsten Einwände, die der moderne naturwissenschaftliche Verstand an die Philosophie des Geistes richten kann.

Die Antwort ist: Diese Experimente widerlegen die Freiheit nicht. Sie widerlegen nur, dass die falsche Kategorie – die simple Kausalität (Ursache-Wirkung) – auf den menschlichen Geist angewendet werden kann.

Der Fehler der naturalistischen Argumentation (der Hirnforschung) liegt nicht in den Messungen (z.B. bei Libet-Experimenten), sondern in der Kategorie, die sie auf den Geist anwendet. Sie machen einen Kategorienfehler.

1. Der Kategorienfehler: Der Verstand sucht Kausalketten

Der naturwissenschaftliche Verstand (der Hirnforscher) ist darauf geschult, die Welt als eine Kette von Kausalität zu sehen: Ursache A führt zu Wirkung B.

  • Das Experiment (z.B. Libet): Er sucht nun nach der „Ursache“ der Handlung. Er misst einen isolierten Impuls (den Arm irgendwann heben). Diesen Impuls verwechselt er mit dem, was er für „freie Entscheidung“ hält.
  • Das Ergebnis: Er findet (völlig korrekt), dass dieser isolierte Impuls selbst eine neuronale Ursache hat, die dem bewussten Gefühl („Jetzt!“) vorausgeht.
  • Der Trugschluss: Er schließt daraus: „Die Ursache (Gehirn) ging dem Entschluss voraus, also ist der Entschluss determiniert und die Freiheit eine Illusion.“

Sein Fehler ist zweifach:

  1. Er verwechselt einen grundlosen Naturimpuls (den ich Willkür nenne, siehe Glossar) mit der wahren, vernünftigen Freiheit. Die Willkür ist unfrei; sie ist Teil der Natur.
  2. Er überträgt die Kategorie der linearen Kausalität, die er im Bereich der Natur (des Impulses) gefunden hat, auf den Bereich des Geistes (der vernünftigen Entscheidung), wo diese Kategorie fundamental unzulänglich ist.

2. Die wahre Kategorie des Geistes: Das sich selbst bestimmende System (Wechselwirkung)

Der Geist ist kein Ding (wie ein Stein), das von einem anderen Ding (einem „Bereitschaftspotenzial“) verursacht wird.

Der Geist (oder das „gebildete Selbstbewusstsein“) ist ein System. Er ist das, was ich in der Wissenschaft der Logik als Wechselwirkung begreife, als „sich selbst setzenden Ursache“.

Wahre Freiheit ist kein einzelner „Moment“ (den man messen könnte), sondern ein Prozess, der zwei Seiten hat:

  1. Die historische Seite: Unseren gebildeten Charakter (unsere „zweite Natur“).
  2. Die aktuelle Seite: Den „Akt des Reflektierens im Moment der Handlung“.

a) Der Charakter (Die „Zweite Natur“)

Unser Handeln kommt nicht aus dem Nichts. Es entspringt unserem Charakter (quasi einer „kultivierten Gehirnstruktur“), den wir uns durch Bildung, Erziehung und Gewohnheit erarbeitet haben. Dies ist unsere Basis. Der sittliche Mensch hat sein Gehirn zum Organ der Vernunft gemacht.

b) Der Akt des Reflektierens (Die lebendige Freiheit)

Hier liegt der entscheidende Punkt. Der Geist (siehe Glossar) ist nicht identisch mit seinem Charakter (seiner „zweiten Natur“). Der Geist ist wesentlich die reine Aktivität des Denkens und der Negation.

  • Das „Ich“ als Reflexion: In jedem Moment der Handlung bin ich als Geist die Macht, Abstand zu nehmen – nicht nur von meinen Naturimpulsen (der „ersten Natur“), sondern auch von meinem eigenen Charakter (der „zweiten Natur“).
  • Das Denken: Ich kann meine Gewohnheiten, meinen „gebildeten“ Impuls, zum Gegenstand machen. Ich kann ihn reflektieren und ihn an einem universellen Maßstab (dem Begriff des Guten, dem Gesetz) messen.
  • Die wahre Tat: Die freie Tat ist daher kein bloßes Ablaufen des Charakters. Sie ist die Synthese (der Schluss):
    1. Aus dem Allgemeinen (dem Guten, das ich jetzt denke und reflektiere).
    2. Aus dem Besonderen (meinem Charakter/meiner Gewohnheit).
    3. Und dem Einzelnen (meinem „Ich“, das jetzt den Entschluss fasst und handelt).

Was bedeutet das? Es bedeutet, dass im freien Handeln die lineare Kausalkette in sich zusammenbricht.

  • Der „jetzige Entschluss“ (die Tat)
  • der „gebildete Charakter“ (die „Gehirnstruktur“)
  • und das „Ideal des Guten“ (die Reflexion im Moment)

… sind keine Kette von Ursachen und Wirkungen. Sie sind Momente eines einzigen lebendigen Systems, das sich selbst bestimmt.

Der Charakter ist das Resultat früherer Entschlüsse, und der jetzige Entschluss ist das Resultat des Charakters, der jetzt das Gute reflektiert. Hier ist alles Ursache und Wirkung zugleich. Der Geist produziert sich selbst in einem ständigen Prozess.

Wenn der Naturwissenschaftler nun versucht, dieses System mit dem primitiven Werkzeug der linearen Kausalität zu „messen“, muss er scheitern. Der Erkenntniswert einer solchen Erklärung wird immer geringer, je komplexer der „vermessene“ geistige Entschluss ist. Er starrt auf ein lebendiges System der Wechselwirkung und fragt vergeblich: „Was war hier die erste Ursache?“

3. Zwei Perspektiven auf dasselbe System

Weil der Geist ein solches System ist (und kein Ding), kann man ihn auf zwei Weisen betrachten. Diese Perspektiven sind nicht widersprüchlich, sondern beschreiben dasselbe Phänomen auf unterschiedlichen Stufen des Begreifens:

  • a) Die Außenperspektive (Naturalismus / Verstand): Der Naturwissenschaftler sieht dieses System von außen. Er sieht ein unendlich komplexes Organ (Gehirn), das durch Wechselwirkung (feedback loops) lernt, sich selbst organisiert und eine „zweite Natur“ (einen Charakter) ausbildet. Er beschreibt die materielle Existenz (das „An sich“). Er sieht die „Maschinerie“, aber er erfasst nicht ihren Sinn.
  • b) Die Innenperspektive (Philosophie / Vernunft): Der Philosoph begreift dieses System von innen. Er erfasst dessen logische Struktur, seinen Sinn und Zweck (das „Für sich“). Und die Selbstbeschreibung dieses sich selbst organisierenden Systems der Freiheit ist die Philosophie des Rechts.

Eine Analogie: Ein Computertechniker (der Naturalist) sieht einen Text auf einer Festplatte. Er sagt: „Das ist nichts als eine determinierte Abfolge von magnetischen Ladungen“ (Außenperspektive). Der Leser (der Philosoph) sagt: „Das ist Fausts Monolog“ (Innenperspektive).

Der Techniker hat empirisch recht. Aber der Sinn, die Wahrheit, der Begriff dieser magnetischen Ladungen ist der Monolog. Der Monolog „entkommt“ der Kausalität der Festplatte nicht – er ist ihre Wahrheit.

Fazit: Freiheit ist nicht „Entkommen“, sondern „Selbst-Determination“

Freiheit ist nicht die Abwesenheit von Determination. Freiheit ist die höchste Art der Determination.

Die Philosophie des Geistes verleugnet die „Determination“ nicht, sie begreift sie. Sie unterscheidet:

  • Unfreiheit (Natur): Externe Determination. (Ein Stein wird geschubst; ein Naturimpuls passiert mir).
  • Wahre Freiheit (Geist): Selbst-Determination. (Mein Handeln ist determiniert, aber es ist determiniert durch mich selbst – durch das vernünftige System, das ich denkend und handelnd bin).

Verantwortung bedeutet daher nicht, dass die Tat „undeterminiert“ war. Sie bedeutet, der Architekt dieses sich selbst bestimmenden Systems (seines Charakters) zu sein.