Diese Frage ist der Kern des philosophischen Pessimismus. Sie behauptet, die Vernunft, das Recht und der Staat seien nur eine dünne Tünche, eine Illusion oder ein Werkzeug (eine „List des Triebs“), während die „wahre Wirklichkeit“ ein blinder, chaotischer Drang sei.
Meine, Hegels, Philosophie (z.B. in der Philosophie des Geistes) leugnet die Existenz des Triebes keineswegs. Im Gegenteil: Sie ist der Ausgangspunkt des Praktischen Geistes.
1. Der Trieb ist real, aber er ist der Anfang (nicht das Ganze)
Wenn Sie in meine Enzyklopädie blicken, finden Sie den Abschnitt „Die Triebe und die Willkür“ (§ 473 ff.). Ich erkenne voll an: Der Geist, in seiner Unmittelbarkeit, ist Trieb.
- Der Trieb ist der erste, unmittelbare Ausdruck des Willens. Er ist die „Natur“ im Geist. Er ist die gefühlte Bedürftigkeit und der Drang zur Befriedigung (Hunger, Ehrgeiz, Sexualität etc.).
2. Das Problem: Der Trieb ist in sich widersprüchlich
Hier liegt der Fehler der „Trieb-Philosophie“ (Schopenhauer): Sie verabsolutiert diese Stufe, ohne ihre innere Unhaltbarkeit zu sehen.
- Der Trieb ist partikular: Jeder Trieb will nur sich (der Hunger will Essen, der Ehrgeiz will Ruhm).
- Der Mensch hat viele Triebe: Was passiert, wenn der „Trieb“ die Wahrheit ist? Es kommt zur „Kollision der Triebe“.
- Der Ehrgeiz sagt: „Arbeite!“ Der Selbsterhaltungstrieb sagt: „Ruh dich aus!“ Der soziale Trieb sagt: „Hilf dem Freund!“ Der Eigennutz sagt: „Denk an dich!“
- Wäre der Mensch nur Trieb, wäre er ein Schlachtfeld dieser unvernünftigen Kräfte. Er wäre unfrei – ein „Zerrissener“, unfähig zu einer einheitlichen Tat.
3. Die notwendige Lösung: Der Trieb „hebt sich selbst auf“
Weil der Mensch diese Kollision der Triebe erfährt, wird er gezwungen, über den Trieb hinauszugehen.
- Die Stufe der Willkür (Wahl): Das „Ich“ (die Reflexion) tritt als die Macht auf, die zwischen den Trieben wählt (das ist die Willkür, siehe Glossar). Es sagt „Nein“ zum einen Trieb (Ausruhen) und „Ja“ zum anderen (Arbeiten).
- Die Stufe der „Glückseligkeit“ (System): Das „Ich“ geht noch weiter. Es organisiert die Triebe. Es denkt und schafft ein System der Befriedigung (ich arbeite jetzt, um später essen und ruhen zu können). Dies nenne ich das Streben nach „Glückseligkeit“ (§ 479).
Schon hier ist der unbewusste Trieb durch das bewusste Denken (die Reflexion) überwunden und diszipliniert worden.
4. Die Wahrheit des Triebs: Die Vernunft (Rechtsphilosophie)
Aber selbst die „Glückseligkeit“ ist noch willkürlich (Was macht mich glücklich?). Die wahre „Aufhebung“ (Begriff 5) des Triebs geschieht erst in der Sittlichkeit (siehe Glossar).
Hier kommt die Rechtsphilosophie ins Spiel:
- Der „Trieb“ nach Eigentum wird aufgehoben im vernünftigen Abstrakten Recht (siehe Glossar).
- Der „Trieb“ nach sozialer Geltung (Ehrgeiz) wird aufgehoben in der Korporation (siehe Glossar) und der bürgerlichen Ehre.
- Der „Trieb“ nach Gemeinschaft wird aufgehoben in der Familie (siehe Glossar) und im Staat (siehe Glossar).
Fazit:
Zu sagen, „alles ist unvernünftiger Trieb“, ist wie zu sagen, „alles ist Schwerkraft“. Man bleibt bei der niedrigsten, abstraktesten und unwahrsten Stufe stehen.
Der „Trieb“ ist nicht die unvernünftige Basis von allem. Er ist die unentwickelte Basis des Geistes. Er ist das Material, das der Geist (durch Denken, Bildung und sittliche Institutionen) bearbeitet und formt, um zu sich selbst – zur Vernunft und zur Freiheit – zu kommen.
Die Wahrheit des Triebs ist nicht mehr Trieb, sondern die Vernunft, die ihm seinen vernünftigen Ort im Ganzen zuweist.
