Philosophische Wahrheit

“Die Frage nach der Wahrheit der Gedankenbestimmungen muß dem gewöhnlichen Bewußtsein seltsam vorkommen, denn dieselben scheinen nur in ihrer Anwendung auf gegebene Gegenstände die Wahrheit zu erhalten, und es hätte hiernach keinen Sinn, ohne diese Anwendung nach ihrer Wahrheit zu fragen. Diese Frage aber ist es gerade, worauf es ankommt. Dabei muß man freilich wissen, was unter Wahrheit zu verstehen ist. Gewöhnlich nennen wir Wahrheit Übereinstimmung eines Gegenstandes mit unserer Vorstellung. Wir haben dabei als Voraussetzung einen Gegenstand, dem unsere Vorstellung von ihm gemäß sein soll. – Im philosophischen Sinne dagegen heißt Wahrheit, überhaupt abstrakt ausgedrückt, Übereinstimmung eines Inhalts mit sich selbst. Dies ist also eine ganz andere Bedeutung von Wahrheit als die vorher erwähnte. Übrigens findet sich die tiefere (philosophische) Bedeutung der Wahrheit zum Teil auch schon im gewöhnlichen Sprachgebrauch. So spricht man z. B. von einem wahren Freund und versteht darunter einen solchen, dessen Handlungsweise dem Begriff der Freundschaft gemäß ist; ebenso spricht man von einem wahren Kunstwerk. Unwahr heißt dann soviel als schlecht, in sich selbst unangemessen. In diesem Sinne ist ein schlechter Staat ein unwahrer Staat, und das Schlechte und Unwahre überhaupt besteht in den Widerspruch, der zwischen der Bestimmung oder dem Begriff und der Existenz eines Gegenstandes stattfindet. Von einem solchen schlechten Gegenstand können wir uns eine richtige Vorstellung machen, aber der Inhalt dieser Vorstellung ist ein in sich Unwahres. Solcher Richtigkeiten, die zugleich Unwahrheiten sind, können wir viele im Kopfe haben. – Gott allein ist die wahrhafte Übereinstimmung des Begriffs und der Realität; alle endlichen Dinge aber haben eine Unwahrheit an sich, sie haben einen Begriff und eine Existenz, die aber ihrem Begriff unangemessen ist. Deshalb müssen sie zugrunde gehen, wodurch die Unangemessenheit ihre Begriffs und ihrer Existenz manifestiert wird. Das Tier als Einzelnes hat seinen Begriff in seiner Gattung, und die Gattung befreit sich von der Einzelheit durch den Tod.
Die Betrachtung der Wahrheit in dem hier erläuterten Sinn, der Übereinstimmung mit sich selbst, macht das eigentliche Interesse des Logischen aus. Im gewöhnlichen Bewußtsein kommt die Frage nach der Wahrheit der Denkbestimmungen gar nicht vor. Das Geschäft der Logik kann auch so ausgedrückt werden, daß in ihr die Denkbestimmungen betrachtet werden, inwiefern sie fähig seien, das Wahre zu fassen. Die Frage geht also darauf, welches die Formen des Unendlichen und welches die Formen des Endlichen sind. Im gewöhnlichen Bewußtsein hat man bei den endlichen Denkbestimmungen kein Arges und läßt sie ohne weiteres gelten. Alle Täuschung aber kommt daher, nach endlichen Bestimmungen zu denken und zu handeln.” (Enz § 19, Zusatz 3)