Vorrede

[10. Absatz]

Die besondere Form des üblen Gewissens, welche sich in der Art der Beredsamkeit, zu der sich jene Seichtigkeit aufspreizt, kundtut, kann hierbei bemerklich gemacht werden; und zwar zunächst, daß sie da, wo sie am geistlosesten ist, am meisten vom Geiste spricht, wo sie am totesten und ledernsten redet, das Wort Leben und ins Leben einführen, wo sie die größte Selbstsucht des leeren Hochmuts kundtut, am meisten das Wort Volk im Munde führt. Das eigentümliche Wahrzeichen aber, das sie an der Stirne trägt, ist der Haß gegen das Gesetz. Daß Recht und Sittlichkeit, und die wirkliche Welt des Rechts und des Sittlichen, sich durch den Gedanken erfaßt, durch Gedanken sich die Form der Vernünftigkeit, nämlich Allgemeinheit und Bestimmtheit gibt, dies, das Gesetz, ist es, was jenes sich das Belieben vorbehaltende Gefühl, jenes das Rechte in die subjektive Überzeugung stellende Gewissen mit Grund als das sich feindseligste ansieht. Die Form des Rechten als einer Pflicht und als eines Gesetzes wird von ihm als ein toter, kalter Buchstabe und als eine Fessel empfunden; denn es erkennt in ihm nicht sich selbst, sich in ihm somit nicht frei, weil das Gesetz die Vernunft der Sache ist und diese dem Gefühle nicht verstattet, sich an der eigenen Partikularität zu wärmen. Das Gesetz ist darum, wie im Laufe dieses Lehrbuchs irgendwo angemerkt worden6) , vornehmlich das Schiboleth, an dem die falschen Brüder und Freunde des sogenannten Volkes sich abscheiden.

6) *Das genannte Buch ist um des angegebenen Charakters willen von origineller Art. Der Unmut des Verfassers könnte für sich etwas Edles haben, indem derselbe sich an den vorhin erwähnten, von Rousseau vornehmlich ausgegangenen falschen Theorien und hauptsächlich an deren versuchter Realisierung entzündet hat. Aber der Herr v. Haller hat sich, um sich zu retten, in ein Gegenteil geworfen, das ein völliger Mangel an Gedanken ist und bei dem deswegen von Gehalt nicht die Rede sein kann, – nämlich in den bittersten Haß gegen alle Gesetze, Gesetzgebung, alles förmlich und gesetzlich bestimmte Recht. Der Haß des Gesetzes, gesetzlich bestimmten Rechts ist das Schiboleth, an dem sich der Fanatismus, der Schwachsinn und die Heuchelei der guten Absichten offenbaren und unfehlbar zu erkennen geben, was sie sind, sie mögen sonst Kleider umnehmen, welche sie wollen. – Eine Originalität, wie die von Hallersche, ist immer eine merkwürdige Erscheinung, und für diejenigen meiner Leser, welche das Buch noch nicht kennen, will ich einiges zur Probe anführen. Nachdem Herr v. Haller (1. Bd., S. 342 ff.) seinen Hauptgrundsatz aufgestellt, ‘daß nämlich wie im Unbelebten das Größere das Kleinere, das Mächtige das Schwache verdränge usf., so auch unter den Tieren und dann unter den Menschen dasselbe Gesetz unter edleren Gestalten (oft wohl auch unter unedlen?) wiederkomme’, und ‘daß dies also die ewige unabänderliche Ordnung Gottes sei, daß der Mächtigere herrsche, herrschen müsse und immer herrschen werde‘ – man sieht schon hieraus und ebenso aus dem Folgenden, in welchem Sinne hier die Macht gemeint ist: nicht die Macht des Gerechten und Sittlichen, sondern die zufällige Naturgewalt -, so belegt er dies nun weiterhin und unter anderen Gründen auch damit (S. 365 f.), daß die Natur es mit bewundernswürdiger Weisheit also geordnet, daß gerade das Gefühl eigener Überlegenheit unwiderstehlich den Charakter veredelt und die Entwicklung eben derjenigen Tugenden begünstigt, welche für die Untergebenen am notwendigsten sind. Er fragt mit vieler schulrhetorischen Ausführung. ‘ob es im Reiche der Wissenschaften die Starken oder Schwachen sind, welche Autorität und Zutrauen mehr zu niedrigen eigennützigen Zwecken und zum Verderben der gläubigen Menschen mißbrauchen, ob unter den Rechtsgelehrten die Meister in der Wissenschaft die Legulejen und Rabulisten sind, welche die Hoffnung gläubiger Klienten betrügen, die das Weiße schwarz, das Schwarze weiß machen, die die Gesetze zum Vehikel des Unrechts mißbrauchen, ihre Schutzbedürftigen dem Bettelstab entgegenführen und wie hungrige Geier das unschuldige Lamm zerfleischen’, usf. Hier vergißt Herr v. Haller, daß er solche Rhetorik gerade zur Unterstützung des Satzes anführt, daß die Herrschaft des Mächtigeren ewige Ordnung Gottes sei, die Ordnung, nach welcher der Geier das unschuldige Lamm zerfleischt, daß also die durch Gesetzeskenntnis Mächtigeren ganz recht daran tun, die gläubigen Schutzbedürftigen als die Schwachen zu plündern. Es wäre aber zuviel gefordert, daß da zwei Gedanken zusammengebracht wären, wo sich nicht einer findet. – Daß Herr v. Haller ein Feind von Gesetzbüchern ist, versteht sich von selbst; die bürgerlichen Gesetze sind nach ihm überhaupt einesteils ‘unnötig, indem sie aus dem natürlichen Gesetze sich von selbst verstehen’ – es wäre, seit es Staaten gibt, viel Mühe erspart worden, die auf das Gesetzgeben und die Gesetzbücher verwandt worden und die noch darauf und auf das Studium des gesetzlichen Rechts verwendet wird, wenn man sich von je bei dem gründlichen Gedanken, daß sich alles das von selbst verstehe, beruhigt hätte -; ‘andernteils werden die Gesetze eigentlich nicht den Privatpersonen gegeben, sondern als Instruktionen für die Unterrichter, um ihnen den Willen des Gerichtsherrn bekanntzumachen. Die Gerichtsbarkeit ist ohnehin (1. Bd., S. 297 f. und allerwärts) nicht eine Pflicht des Staats, sondern eine Wohltat, nämlich eine Hilfeleistung von Mächtigeren und bloß suppletorisch; unter den Mitteln zur Sicherung des Rechts ist sie nicht das vollkommenste, vielmehr unsicher und ungewiß, das Mittel, das uns unsere neueren Rechtsgelehrten allein lassen und uns die drei anderen Mittel rauben, gerade diejenigen, die am schnellsten und sichersten zum Ziele führen und die außer jenem dem Menschen die freundliche Natur zur Sicherung seiner rechtlichen Freiheit gegeben hat’ – und diese drei sind (was meint man wohl?) ‘1. eigene Befolgung und Einschärfung des natürlichen Gesetzes, 2. Widerstand gegen Unrecht, 3. Flucht, wo keine Hilfe mehr zu finden.‘ (Wie unfreundlich sind doch die Rechtsgelehrten im Vergleich der freundlichen Natur!) ‘Das natürliche göttliche Gesetz aber, das (1. Bd., S. 292) die allgütige Natur jedem gegeben, ist: Ehre in jedem deinesgleichen (nach dem Prinzip des Verfassers müßte es heißen: Ehre [den,] der nicht deinesgleichen, sondern der Mächtigere ist), beleidige niemand, der dich nicht beleidigt; fordere nichts, was er dir nicht schuldig ist (was ist er aber schuldig?), ja, noch mehr: Liebe deinen Nächsten und nütze ihm wo du kannst.’ – Die Einpflanzung dieses Gesetzes soll es sein, was Gesetzgebung und Verfassung überflüssig mache. Es wäre merkwürdig zu sehen, wie Herr v. Haller es sich begreiflich macht, daß, dieser Einpflanzung ungeachtet, doch Gesetzgebungen und Verfassungen in die Welt gekommen sind! – In Bd. 3, S. 362 f. kommt der Herr Verf. auf die ‘sogenannten Nationalfreiheiten’ – d. i. die Rechts- und Verfassungsgesetze der Nationen; jedes gesetzlich bestimmte Recht hieß in diesem großen Sinne eine Freiheit; er sagt von diesen Gesetzen unter anderm, ‘daß ihr Inhalt gewöhnlich sehr unbedeutend sei, ob man gleich in Büchern auf dergleichen urkundliche Freiheiten einen großen Wert setzen möge’. Wenn man dann sieht, daß es die Nationalfreiheiten der deutschen Reichsstände, der englischen Nation – die Charta Magna ‘die aber wenig gelesen und wegen der veralteten Ausdrücke noch weniger verstanden wird’, die Bill of Rights usf. -, der ungarischen Nation usf. sind, von welchen der Verfasser spricht: so wundert man sich zu erfahren, daß diese sonst für so wichtig gehaltenen Besitztümer etwas Unbedeutendes sind und daß bei diesen Nationen auf ihre Gesetze, die zu jedem Stück Kleidung, das die Individuen tragen, zu jedem Stück Brot, das sie essen, konkurriert haben und täglich und stündlich in allem konkurrieren, bloß in Büchern ein Wert gelegt werde. – Auf das preußische allgemeine Gesetzbuch, um noch dies anzuführen, ist Herr v. Haller besonders übel zu sprechen ( 1. Bd., S. 185 ff.), weil die unphilosophischen [bei Haller: “neuphilosophisch”] Irrtümer (wenigstens noch nicht die Kantische Philosophie, auf welche Herr v. Haller am erbittertsten ist) dabei ihren unglaublichen Einfluß bewiesen haben, unter anderem vornehmlich, weil darin vom Staate, Staatsvermögen, dem Zwecke des Staats, vom Oberhaupte des Staats, von Pflichten des Oberhaupts, Staatsdienern usf. die Rede sei. Am ärgsten ist dem Herrn v. Haller, ‘das Recht, zur Bestreitung der Staatsbedürfnisse das Privatvermögen der Personen, ihr Gewerbe, Produkte oder Konsumtion mit Abgaben zu belegen; weil somit der König selbst, da das Staatsvermögen nicht als Privateigentum des Fürsten, sondern als Staatsvermögen qualifiziert wird, so auch die preußischen Bürger nichts Eigenes mehr haben, weder ihren Leib noch ihr Gut, und alle Untertanen gesetzlich Leibeigene seien, denn sie dürfen sich dem Dienst des Staats nicht entziehen‘.
Zu aller dieser unglaublichen Krudität könnte man die Rührung am possierlichsten finden, mit der Herr v. Haller das unaussprechliche Vergnügen über seine Entdeckungen beschreibt (1. Bd., Vorrede [S. XXIII f.]), – “eine Freude, wie nur der Wahrheitsfreund sie fühlen kann, wenn er nach redlichem Forschen die Gewißheit erhält, daß … er gleichsam (jawohl, gleichsam!) den Ausspruch der Natur, das Wort Gottes selbst, getroffen habe” (das Wort Gottes unterscheidet vielmehr seine Offenbarungen von den Aussprüchen der Natur und des natürlichen Menschen sehr ausdrücklich) “wie er vor lauter Bewunderung hätte niedersinken mögen, ein Strom von freudigen Tränen seinen Augen entquoll und die lebendige Religiosität von da in ihm entstanden ist”. – Herr v. Haller hätte es aus Religiosität vielmehr als das härteste Strafgericht Gottes beweinen müssen – denn es ist das Härteste, was dem Menschen widerfahren kann -, vom Denken und der Vernünftigkeit, von der Verehrung der Gesetze und von der Erkenntnis, wie unendlich wichtig, göttlich es ist, daß die Pflichten des Staats und die Rechte der Bürger wie die Rechte des Staats und die Pflichten der Bürger gesetzlich bestimmt sind, soweit abgekommen zu sein, daß sich ihm das Absurde für das Wort Gottes unterschiebt.

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Kommentare

Eine Antwort zu „Vorrede“

  1. Avatar von Karl Marx
    Karl Marx

    Proletarische Revolutionen […] schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen
    Hic Rhodus, hic salta!
    Hier ist die Rose, hier tanze!“

    [Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Kapitel I]

    Dies sind die Bedingungen des Problems. Hic Rhodus, hic salta!

    [Kapital, Bd. 1, 4. Kapitel („Verwandlung von Geld in Kapital“) Ende des 2. Abschnitts („Widersprüche der allgemeinen Formel“)]

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