Vorrede

[8. Absatz]

In der Tat, was wir von der Philosophie der neueren Zeit mit der größten Prätention über den Staat haben ausgehen sehen, berechtigte wohl jeden, der Lust hatte mitzusprechen, zu dieser Überzeugung, eben solches von sich aus geradezu machen zu können und damit sich den Beweis, im Besitz der Philosophie zu sein, zu geben. Ohnehin hat die sich so nennende Philosophie es ausdrücklich ausgesprochen, daß das Wahre selbst nicht erkannt werden könne, sondern daß dies das Wahre sei, was jeder über die sittlichen Gegenstände, vornehmlich über Staat, Regierung und Verfassung, sich aus seinem Herzen, Gemüt und Begeisterung aufsteigen lasse. Was ist darüber nicht alles der Jugend insbesondere zum Munde geredet worden? Die Jugend hat es sich denn auch wohl gesagt sein lassen. Den Seinen gibt Er’s schlafend, ist auf die Wissenschaft angewendet worden, und damit hat jeder Schlafende sich zu den Seinen gezählt; was er so im Schlafe der Begriffe bekommen, war denn freilich auch Ware danach. – Ein Heerführer dieser Seichtigkeit, die sich Philosophieren nennt, Herr Fries3) , hat sich nicht entblödet, bei einer feierlichen, berüchtigt gewordenen öffentlichen Gelegenheit in einer Rede über den Gegenstand von Staat und Staatsverfassung die Vorstellung zu geben: ‘in dem Volke, in welchem echter Gemeingeist herrsche, würde jedem Geschäft der öffentlichen Angelegenheiten das Leben von unten aus dem Volke kommen, würden jedem einzelnen Werke der Volksbildung und des volkstümlichen Dienstes sich lebendige Gesellschaften weihen, durch die heilige Kette der Freundschaft unverbrüchlich vereinigt’, und dergleichen4) . – Dies ist der Hauptsinn der Seichtigkeit, die Wissenschaft, statt auf die Entwicklung des Gedankens und Begriffs, vielmehr auf die unmittelbare Wahrnehmung und die zufällige Einbildung zu stellen, ebenso die reiche Gliederung des Sittlichen in sich, welche der Staat ist, die Architektonik seiner Vernünftigkeit, die durch die bestimmte Unterscheidung der Kreise des öffentlichen Lebens und ihrer Berechtigungen und durch die Strenge des Maßes, in dem sich jeder Pfeiler, Bogen und Strebung hält, die Stärke des Ganzen aus der Harmonie seiner Glieder hervorgehen macht, – diesen gebildeten Bau in den Brei des “Herzens, der Freundschaft und Begeisterung” zusammenfließen zu lassen. Wie nach Epikur die Welt überhaupt, so ist freilich nicht, aber so sollte die sittliche Welt nach solcher Vorstellung der subjektiven Zufälligkeit des Meinens und der Willkür übergeben werden. Mit dem einfachen Hausmittel, auf das Gefühl das zu stellen, was die und zwar mehrtausendjährige Arbeit der Vernunft und ihres Verstandes ist, ist freilich alle die Mühe der von dem denkenden Begriffe geleiteten Vernunfteinsicht und Erkenntnis erspart. Mephistopheles bei Goethe – eine gute Autorität – sagt darüber ungefähr, was ich auch sonst angeführt:

Verachte nur Verstand und Wissenschaft,
des Menschen allerhöchste Gaben –
so hast dem Teufel dich ergeben
und mußt zugrunde gehn.5)

3) *Von der Seichtigkeit seiner Wissenschaft habe ich sonst Zeugnis gegeben; s. Wissenschaft der Logik (Nürnberg 1812), Einl. S. XVII.

4) Jakob Friedrich Fries, 1773-1843 – als Professor der Philosophie und Mathematik Hegels Vorgänger in Heidelberg – hatte 1817 auf dem Wartburgfest eine Rede gehalten und wurde daraufhin vorübergehend vom Lehramt suspendiert; siehe “Feierrede des Prof. Fries an die Teutschen Burschen … “, Oppositionsblatt oder Weimarische Zeitung, 1817, Nr. 257.

5) “Verachte nur Vernunft und Wissenschaft,
Des Menschen allerhöchste Kraft,

Und hätt er sich auch nicht dem Teufel übergeben,
Er müßte doch zugrunde gehn!”
Goethe, Faust, 1. Teil, Studierzimmer, V. 1851-52, 1866-67

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Kommentare

Eine Antwort zu „Vorrede“

  1. Avatar von Karl Marx
    Karl Marx

    Proletarische Revolutionen […] schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen
    Hic Rhodus, hic salta!
    Hier ist die Rose, hier tanze!“

    [Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Kapitel I]

    Dies sind die Bedingungen des Problems. Hic Rhodus, hic salta!

    [Kapital, Bd. 1, 4. Kapitel („Verwandlung von Geld in Kapital“) Ende des 2. Abschnitts („Widersprüche der allgemeinen Formel“)]

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