Vorrede

[7. Absatz]

Am festesten konnte in unserer Zeit die Vorstellung, als ob die Freiheit des Denkens und des Geistes überhaupt sich nur durch die Abweichung, ja Feindschaft gegen das öffentlich Anerkannte beweise, in Beziehung auf den Staat eingewurzelt [sein] und hiernach absonderlich eine Philosophie über den Staat wesentlich die Aufgabe zu haben scheinen, auch eine Theorie und eben eine neue und besondere zu erfinden und zu geben. Wenn man diese Vorstellung und das ihr gemäße Treiben sieht, so sollte man meinen, als ob noch kein Staat und Staatsverfassung in der Welt gewesen noch gegenwärtig vorhanden sei, sondern als ob man jetzt – und dies Jetzt dauert immer fort – ganz von vorne anzufangen und die sittliche Welt nur auf ein solches jetziges Ausdenken und Ergründen und Begründen gewartet habe. Von der Natur gibt man zu, daß die Philosophie sie zu erkennen habe, wie sie ist, daß der Stein der Weisen irgendwo, aber in der Natur selbst verborgen liege, daß sie in sich vernünftig sei und das Wissen diese in ihr gegenwärtige, wirkliche Vernunft, nicht die auf der Oberfläche sich zeigenden Gestaltungen und Zufälligkeiten, sondern ihre ewige Harmonie, aber als ihr immanentes Gesetz und Wesen zu erforschen und begreifend zu fassen habe. Die sittliche Welt dagegen, der Staat, sie, die Vernunft, wie sie sich im Elemente des Selbstbewußtseins verwirklicht, soll nicht des Glücks genießen, daß es die Vernunft ist, welche in der Tat in diesem Elemente sich zur Kraft und Gewalt gebracht habe, darin behaupte und inwohne.2)  Das geistige Universum soll vielmehr dem Zufall und der Willkür preisgegeben, es soll gottverlassen sein, so daß nach diesem Atheismus der sittlichen Welt das Wahre sich außer ihr befinde und zugleich, weil doch auch Vernunft darin sein soll, das Wahre nur ein Problema sei. Hierin aber liege die Berechtigung, ja die Verpflichtung für jedes Denken, auch seinen Anlauf zu nehmen, doch nicht um den Stein der Weisen zu suchen, denn durch das Philosophieren unserer Zeit ist das Suchen erspart und jeder gewiß, so wie er steht und geht, diesen Stein in seiner Gewalt zu haben. Nun geschieht es freilich, daß diejenigen, welche in dieser Wirklichkeit des Staats leben und ihr Wissen und Wollen darin befriedigt finden – und deren sind viele, ja mehr als es meinen und wissen, denn im Grunde sind es alle -, daß also wenigstens diejenigen, welche mit Bewußtsein ihre Befriedigung im Staate haben, jener Anläufe und Versicherungen lachen und sie für ein bald lustigeres oder ernsteres, ergötzliches oder gefährliches, leeres Spiel nehmen. Jenes unruhige Treiben der Reflexion und Eitelkeit, sowie die Aufnahme und Begegnung, welche sie erfährt, wäre nun eine Sache für sich, die sich auf ihre Weise in sich entwickelt; aber es ist die Philosophie überhaupt, welche sich durch jenes Getreibe in mannigfaltige Verachtung und Mißkredit gesetzt hat. Die schlimmste der Verachtungen ist diese, daß wie gesagt jeder, wie er so steht und geht, über die Philosophie überhaupt Bescheid zu wissen und abzusprechen imstande zu sein überzeugt ist. Keiner anderen Kunst und Wissenschaft wird diese letzte Verachtung bezeigt, zu meinen, daß man sie geradezu innehabe.

2) *Zusatz. [Dieser Zusatz, von Gans eingeschaltet, stammt aus einer Vorlesung über Naturrecht und Staatswissenschaft vom Wintersemester 1822/23.] Es gibt zweierlei Arten von Gesetzen, Gesetze der Natur und des Rechts: die Gesetze der Natur sind schlechthin und gelten so, wie sie sind: sie leiden an keiner Verkümmerung, obgleich man sich in einzelnen Fällen dagegen vergehen kann. Um zu wissen, was das Gesetz der Natur ist, müssen wir dieselbe kennenlernen, denn diese Gesetze sind richtig; nur unsere Vorstellungen davon können falsch sein. Der Maßstab dieser Gesetze ist außer uns, und unser Erkennen tut nichts zu ihnen hinzu, befördert sie nicht: nur unsere Erkenntnis über sie kann sich erweitern. Die Kenntnis des Rechts ist einerseits ebenso andererseits nicht. Wir lernen die Gesetze ebenso kennen, wie sie schlechthin da sind; so hat sie mehr oder weniger der Bürger, und der positive Jurist bleibt nicht minder bei dem, was gegeben ist, stehen. Aber der Unterschied ist, daß bei den Rechtsgesetzen sich der Geist der Betrachtung erhebt und schon die Verschiedenheit der Gesetze darauf aufmerksam macht, daß sie nicht absolut sind. Die Rechtsgesetze sind Gesetztes, von Menschen Herkommendes. Mit diesem kann notwendig die innere Stimme in Kollision treten oder sich ihm anschließen. Der Mensch bleibt bei dem Daseienden nicht stehen, sondern behauptet, in sich den Maßstab zu haben von dem, was recht ist; er kann der Notwendigkeit und der Gewalt äußerer Autorität unterworfen sein, aber niemals wie der Notwendigkeit der Natur, denn ihm sagt immer sein Inneres, wie es sein solle, und in sich selbst findet er die Bewährung oder Nichtbewährung dessen, was gilt. In der Natur ist die höchste Wahrheit, daß ein Gesetz überhaupt ist; in den Gesetzen des Rechts gilt die Sache nicht, weil sie ist, sondern jeder fordert, sie solle seinem eigenen Kriterium entsprechen. Hier also ist ein Widerstreit möglich dessen, was ist, und dessen, was sein soll, des an und für sich seienden Rechts, welches unverändert bleibt, und der Willkürlichkeit der Bestimmung dessen, was als Recht gelten solle. Solche Trennung und solcher Kampf findet sich nur auf dem Boden des Geistes, und weil der Vorzug des Geistes somit zum Unfrieden und zur Unseligkeit zu führen scheint, so wird man häufig zur Betrachtung der Natur aus der Willkür des Lebens zurückverwiesen und soll sich an derselben ein Muster nehmen. Gerade in diesen Gegensätzen aber des an und für sich seienden Rechts und dessen, was die Willkür als Recht geltend macht, liegt das Bedürfnis, gründlich das Rechte erkennen zu lernen. Seine Vernunft muß dem Menschen im Rechte entgegenkommen; er muß also die Vernünftigkeit des Rechts betrachten, und dies ist die Sache unserer Wissenschaft, im Gegensatz der positiven Jurisprudenz, die es oft nur mit Widersprüchen zu tun hat. Die gegenwärtige Welt hat dazu noch ein dringenderes Bedürfnis, denn vor alten Zeiten war noch Achtung und Ehrfurcht vor dem bestehenden Gesetz da; jetzt aber hat die Bildung der Zeit eine andere Wendung genommen, und der Gedanke hat sich an die Spitze alles dessen gestellt, was gelten soll. Theorien stellen sich dem Daseienden gegenüber und wollen als an und für sich richtig und notwendig erscheinen. Nunmehr wird es spezielleres Bedürfnis, die Gedanken des Rechts zu erkennen und zu begreifen. Da sich der Gedanke zur wesentlichen Form erhoben hat, so muß man auch das Recht als Gedanken zu fassen suchen. Dies scheint zufälligen Meinungen Tür und Tor zu öffnen, wenn der Gedanke über das Recht kommen soll; aber der wahrhafte Gedanke ist keine Meinung über die Sache, sondern der Begriff der Sache selbst. Der Begriff der Sache kommt uns nicht von Natur. Jeder Mensch hat Finger, kann Pinsel und Farben haben, darum aber ist er noch kein Maler. Ebenso ist es mit dem Denken. Der Gedanke des Rechts ist nicht etwa, was jedermann aus erster Hand hat, sondern das richtige Denken ist das Kennen und Erkennen der Sache, und unsere Erkenntnis soll daher wissenschaftlich sein.

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Kommentare

Eine Antwort zu „Vorrede“

  1. Avatar von Karl Marx
    Karl Marx

    Proletarische Revolutionen […] schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen
    Hic Rhodus, hic salta!
    Hier ist die Rose, hier tanze!“

    [Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Kapitel I]

    Dies sind die Bedingungen des Problems. Hic Rhodus, hic salta!

    [Kapital, Bd. 1, 4. Kapitel („Verwandlung von Geld in Kapital“) Ende des 2. Abschnitts („Widersprüche der allgemeinen Formel“)]

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