Wenn Sie die Philosophie (etwa die Grundlinien der Philosophie des Rechts) „nachvollziehen“, vollziehen Sie die höchste Tätigkeit des menschlichen Geistes: Sie denken die Vernunft (den Begriff) der Welt.
Was bedeutet das genauer? Es ist ein fundamentaler Unterschied, ob Sie die Gesetze der Natur oder die Logik der Freiheit denken.
- Das Denken des „Verstandes“ (z.B. Physik): Wenn Sie ein Gesetz der Physik (z.B. die Schwerkraft) denken, studieren Sie etwas, das Ihnen als äußere Notwendigkeit gegenübertritt. Es sind Gesetze für Objekte (Planeten, Steine). Diese Gesetze sind nicht Ihr Wesen; Sie unterliegen ihnen als Körper.
- Das Denken der „Vernunft“ (Hegels Rechtsphilosophie): Wenn Sie die Rechtsphilosophie denken, ist der Gegenstand ein völlig anderer. Der Gegenstand ist der menschliche Geist selbst – oder genauer: das innerste Wesen des Menschen, welches die Freiheit ist.
Sie studieren nicht, wie Dinge fallen, sondern wie Freiheit sich selbst logisch entfaltet:
- Sie denken nach, warum „Freiheit“ notwendig „Eigentum“ braucht.
- Sie denken nach, warum „Eigentum“ notwendig zum „Vertrag“ führen muss.
- Sie denken nach, warum das bloße „Gewissen“ notwendig die realen Institutionen der „Sittlichkeit“ (Familie, Staat) braucht, um wirklich frei zu sein.
Sie denken also nicht die Gesetze einer fremden Welt, sondern Sie denken die eigene, innere Landkarte Ihrer eigenen Freiheit.
Dieser „Nachvollzug“ ist kein passives Aufnehmen von Informationen, sondern der aktive Akt des Begreifens. Es ist die „Anstrengung des Begriffs“.
Das bedeutet zweierlei: Was Sie tun (der Akt) und wie Sie sich dabei begreifen (das Resultat).
1. Der Akt: Sie trennen das Wesen von der Zufälligkeit
Dies ist der entscheidende Punkt. Die Philosophie zu vollziehen ist ein zutiefst kritischer Akt.
Oft wird mein, Hegels, berühmter Satz „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ (aus der Vorrede der Grundlinien) missverstanden.
- Er bedeutet nicht, dass alles, was existiert, vernünftig ist. Die bloße Existenz (der „real existierende Staat“) ist voller Zufälligkeit, Mängel, Fehler, schlechter Gesetze und historischer Begrenztheit. Das ist seine Endlichkeit und seine „Schwäche“.
- „Wirklichkeit“ nenne ich hingegen die Vernunft (die Idee oder den Begriff), die in dieser mangelhaften Existenz am Werk ist. Die „Wirklichkeit“ ist das vernünftige Prinzip (z.B. die Gliederung des Staates in Gewalten, die Garantie des Eigentums), das sich in der Existenz durchsetzen muss.
Was Sie also tun, wenn Sie die Grundlinien nachvollziehen: Sie eignen sich den Maßstab der Vernunft an. Sie lernen, die Substanz (das prinzipiell Vernünftige am Staat) von der bloßen Erscheinung (der zufälligen, mangelhaften Existenz) zu unterscheiden.
Sie lernen zu kritisieren – aber nicht wie der Zyniker, der alles verwirft, sondern indem Sie die „Schwächen“ des realen Staates als genau das erkennen: als ein Scheitern der Existenz an ihrem eigenen, inneren Begriff.
2. Das Resultat: Sie begreifen sich als „sich versöhnenden“ Geist
Indem Sie diesen Akt vollziehen, ändert sich Ihr Selbstverständnis. Das Ziel der Philosophie ist die Versöhnung – aber „Versöhnung“ ist keine blinde Zustimmung zum Bestehenden.
- Sie begreifen sich nicht mehr als entfremdet: Die Welt (der Staat) ist Ihnen nicht mehr völlig fremd oder sinnlos, denn Sie erkennen die Vernunft, die in ihr wirkt.
- Sie begreifen sich aber auch nicht mehr als naiver Apologet: Sie sagen nicht, dass alles gut ist, wie es ist.
Sie begreifen sich selbst als das Bewusstsein, das diese Spannung aushält.
Sie begreifen, dass die Welt der Schauplatz ist, auf dem die Vernunft (Ihre eigene Freiheit) mit der Endlichkeit und der Zufälligkeit ringt. Sie sind „versöhnt“, weil Sie die Notwendigkeit der Vernunft und die Zufälligkeit der Existenz begriffen haben.
Das bedeutet Freiheit: Nicht im blinden Meinen zu verharren, sondern die Struktur der Wirklichkeit (ihre Vernunft und ihre Mängel) denkend zu durchdringen und sich so die Welt geistig „heimisch“ zu machen.
Wenn Sie das tun, heilen Sie die Entzweiung zwischen Ihrem Denken und der Welt. Sie begreifen sich selbst als Teil eines vernünftigen Ganzen. Es ist der Akt, durch den der Absolute Geist (die sich selbst wissende Vernunft) in Ihrem individuellen Denken Wirklichkeit gewinnt.
3. Die praktische Konsequenz: Das Handeln wird vernünftig
Dieses veränderte Selbstverständnis hat direkte praktische Konsequenzen. Ihr Handeln, das aus dieser philosophischen Einsicht folgt, vermeidet die beiden Hauptformen des unfreien Handelns:
- Es vermeidet die abstrakte Rebellion (den Zorn): Sie versuchen nicht mehr, das Bestehende (den Staat) als „total schlecht“ zu verwerfen und abstrakt zu negieren (wie im Terror der Revolution). Sie wissen, dass Sie damit auch die vernünftige Substanz (die sittlichen Grundlagen) zerstören, auf der Sie selbst stehen.
- Es vermeidet die zynische Resignation (die Apathie): Sie ziehen sich nicht mehr passiv zurück, weil „alles sinnlos“ sei. Sie wissen, dass die Vernunft am Werk ist und dass Ihre Kritik einen objektiven Maßstab hat (den Begriff der Freiheit).
Ihr Handeln wird stattdessen konkret und sittlich. Sie handeln als gebildete(r) Bürger/Bürgerin innerhalb der Institutionen (im Beruf, in der Öffentlichkeit), um die Existenz (die realen Gesetze, die Verwaltung) ihrem Begriff (der Gerechtigkeit und Freiheit) angemessener zu machen.
Es ist die Geduld und der Mut, die Vernunft in der Wirklichkeit zu verwirklichen, statt bloß einer abstrakten Utopie nachzujagen oder im Bestehenden zu verharren.
Die philosophische Einsicht ist auch Quelle von Resilienz. Sie befähigt das freie Handeln, sich immer wieder zu behaupten, sich wiederzuentdecken und neu zu erfinden. Der Geist, der die Vernunft als die wahre Wirklichkeit begriffen hat, verwechselt den temporären Sieg der partikularen Interessen (der bloßen Existenz) nicht mehr mit der Wahrheit. Er weiß, dass das Unvernünftige nur das Zufällige und Negative ist, das dazu bestimmt ist, in der Arbeit des Geistes überwunden (aufgehoben) zu werden.
