216

Für das öffentliche Gesetzbuch sind einerseits einfache, allgemeine Bestimmungen zu fordern, andererseits führt die Natur des endlichen Stoffs auf endlose Fortbestimmung. Der Umfang der Gesetze soll einerseits ein fertiges, geschlossenes Ganzes sein, andererseits ist er das fortgehende Bedürfnis neuer gesetzlicher Bestimmungen. Da diese Antinomie aber in die Spezialisierung der allgemeinen Grundsätze fällt, welche fest bestehen bleiben, so bleibt dadurch das Recht an ein fertiges Gesetzbuch ungeschmälert, sowie daran, daß diese allgemeinen einfachen Grundsätze für sich, unterschieden von ihrer Spezialisierung, faßlich und aufstellbar sind.

Eine Hauptquelle der Verwicklung der Gesetzgebung ist zwar, wenn in die ursprünglichen, ein Unrecht enthaltenden, somit bloß historischen Institutionen mit der Zeit das Vernünftige, an und für sich Rechtliche eindringt, wie bei den römischen oben (§ 180 Anm.) bemerkt worden, dem alten Lehensrechte usf. Aber es ist wesentlich, einzusehen, daß die Natur des endlichen Stoffes selbst es mit sich bringt, daß an ihm die Anwendung auch der an und für sich vernünftigen, der in sich allgemeinen Bestimmungen auf den Progreß ins Unendliche führt. – An ein Gesetzbuch die Vollendung zu fordern, daß es ein absolut fertiges, keiner weiteren Fortbestimmung fähiges sein solle – eine Forderung, welche vornehmlich eine deutsche Krankheit ist -, und aus dem Grunde, weil es nicht so vollendet werden könne, es nicht zu etwas sogenanntem Unvollkommenen, d. h. nicht zur Wirklichkeit kommen zu lassen, beruht beides auf der Mißkennung der Natur endlicher Gegenstände, wie das Privatrecht ist, als in denen die sogenannte Vollkommenheit das Perennieren der Annäherung ist, und auf der Mißkennung des Unterschiedes des Vernunft-Allgemeinen und des Verstandes-Allgemeinen und dessen Anwenden auf den ins Unendliche gehenden Stoff der Endlichkeit und Einzelheit. – Le plus grand ennemi du bien c’est le mieux, ist der Ausdruck des wahrhaften gesunden Menschenverstandes gegen den eitlen räsonierenden und reflektierenden.

Kommentare

Eine Antwort zu „216“

  1. Avatar von Eduard Gans
    Eduard Gans

    Vollständigkeit heißt die vollendete Sammlung alles Einzelnen, was in eine Sphäre gehört, und in diesem Sinne kann keine Wissenschaft und Kenntnis vollständig sein. Wenn man nun sagt, die Philosophie oder irgendeine Wissenschaft sei unvollständig, so liegt die Ansicht nahe, daß man warten müsse, bis sie sich ergänzt habe, denn das beste könne noch fehlen. Aber auf diese Weise wird nichts vorwärts gebracht, weder die geschlossen scheinende Geometrie, in der dennoch neue Bestimmungen hervortreten, noch die Philosophie, die es freilich mit der allgemeinen Idee zu tun hat, aber dennoch immer weiter spezialisiert werden kann. Das allgemeine Gesetz waren sonst immer die zehn Gebote; darum nun, weil ein Gesetzbuch nicht vollständig sein kann, das Gesetz „Du sollst nicht töten“ nicht aufstellen, erhellt sogleich als eine Absurdität. Jedes Gesetzbuch könnte noch besser sein, die müßige Reflexion darf dies behaupten, denn das Herrlichste, Höchste, Schönste kann noch herrlicher, höher und schöner gedacht werden. Aber ein großer alter Baum verzweigt sich mehr und mehr, ohne deshalb ein neuer Baum zu werden, töricht wäre es jedoch, keinen Baum der neuen Zweige wegen, die kommen könnten, pflanzen zu wollen.

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