298

c. Die gesetzgebende Gewalt

Die gesetzgebende Gewalt betrifft die Gesetze als solche, insofern sie weiterer Fortbestimmung bedürfen, und die ihrem Inhalte nach ganz allgemeinen inneren Angelegenheiten. Diese Gewalt ist selbst ein Teil der Verfassung, welche ihr vorausgesetzt ist und insofern an und für sich außer deren direkter Bestimmung liegt, aber in der Fortbildung der Gesetze und in dem fortschreitenden Charakter der allgemeinen Regierungsangelegenheiten ihre weitere Entwicklung erhält.

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2 Antworten zu „298“

  1. Avatar von Karl Marx
    Karl Marx

    c) Die gesetzgebende Gewalt

    § 298. »Die gesetzgebende Gewalt betrifft die Gesetze als solche, insofern sie weiterer Fortbestimmung bedürfen, und die ihrem Inhalte nach ganz allgemeinen« (sehr allgemeiner Ausdruck) »inneren Angelegenheiten. Diese Gewalt ist selbst ein Teil der Verfassung, welche ihr vorausgesetzt ist und insofern an und für sich außer deren direkten Bestimmung liegt, aber in der Fortbildung der Gesetze und in dem fortschreitenden Charakter der allgemeinen Regierungsangelegenheiten ihre weitere Entwickelung erhält.«

    |257| Zunächst fällt es auf, daß Hegel hervorhebt, wie »diese Gewalt selbst ein Teil der Verfassung« ist, »welche ihr vorausgesetzt ist und an und für sich außer deren direkter Bestimmung liegt«, da Hegel diese Bemerkung weder bei der fürstlichen noch der Regierungsgewalt, wo sie ebenso wahr ist, angebracht hatte. Dann aber konstruiert Hegel erst das Ganze der Verfassung und kann es insofern nicht voraussetzen; allein darin eben erkennen wir die Tiefe bei ihm, daß er überall mit dem Gegensatz der Bestimmungen (wie sie in unsren Staaten sind) beginnt und den Akzent darauf legt.

    Die »gesetzgebende Gewalt ist selbst ein Teil der Verfassung«, welche »an und für sich außer deren direkter Bestimmung liegt«. Aber die Verfassung hat sich doch auch nicht von selbst gemacht. Die Gesetze, die »weiterer Fortbestimmung bedürfen«, müssen doch formiert worden sein. Es muß eine gesetzgebende Gewalt vor der Verfassung und außer der Verfassung bestehen oder bestanden haben. Es muß eine gesetzgebende Gewalt bestehn außer der wirklichen, empirischen, gesetzten gesetzgebenden Gewalt. Aber, wird Hegel antworten: Wir setzen einen bestehenden Staat voraus. Allein Hegel ist Rechtsphilosoph und entwickelt die Staatsgattung. Er darf nicht die Idee am Bestehenden, er muß das Bestehende an der Idee messen.

    Die Kollision ist einfach. Die gesetzgebende Gewalt ist die Gewalt, das Allgemeine zu organisieren. Sie ist die Gewalt der Verfassung. Sie greift über über die Verfassung.

    Allein anderseits ist die gesetzgebende Gewalt eine verfassungsmäßige Gewalt. Sie ist also unter die Verfassung subsumiert. Die Verfassung ist Gesetz für die gesetzgebende Gewalt. Sie hat der gesetzgebenden Gewalt Gesetze gegeben und gibt sie ihr beständig. Die gesetzgebende Gewalt ist nur gesetzgebende Gewalt innerhalb der Verfassung, und die Verfassung stände hors de loi |außerhalb des Gesetzes| wenn sie außerhalb der gesetzgebenden Gewalt stände. Voilà la collision! |Darin besteht der Widerspruch!| Innerhalb der jüngsten französischen Geschichte ist mancherlei herumgeknuspert worden.

    Wie löst Hegel diese Antinomie?

    Zunächst heißt es:

    Die Verfassung ist der gesetzgebenden Gewalt »vorausgesetzt«; sie liegt »insofern an und für sich außer deren direkten Bestimmung«.

    »Aber« – aber »in der Fortbildung der Gesetze« »und in dem fortschreitenden Charakter der allgemeinen Regierungsangelegenheiten« »erhält« sie ihre weitere Entwicklung«.

    D.h. also: Direkt liegt die Verfassung außerhalb dem Bereich der |258| gesetzgebenden Gewalt; aber indirekt verändert die gesetzgebende Gewalt die Verfassung. Sie tut auf einem Wege, was sie nicht auf gradem Wege tun kann und darf. Sie zerpflückt sie en détail, weil sie dieselbe nicht en gros verändern kann. Sie tut durch die Natur der Dinge und der Verhältnisse, was sie nach der Natur der Verfassung nicht tun sollte. Sie tut materiell, faktisch, was sie nicht formell, gesetzlich, verfassungsmäßig tut.

    Hegel hat damit die Antinomie nicht gehoben, er hat sie in eine andre Antinomie verwandelt; er hat das Wirken der gesetzgebenden Gewalt, ihr verfassungsmäßiges Wirken in Widerspruch gestellt mit ihrer verfassungsmäßigen Bestimmung. Es bleibt der Gegensatz zwischen der Verfassung und der gesetzgebenden Gewalt. Hegel hat das faktische und das legale Tun der gesetzgebenden Gewalt als Widerspruch definiert oder auch den Widerspruch zwischen dem, was die gesetzgebende Gewalt sein soll, und dem, was sie wirklich ist, zwischen dem, was sie zu tun meint, und dem, was sie wirklich tut.

    Wie kann Hegel diesen Widerspruch für das Wahre ausgehen? »Der fortschreitende Charakter der allgemeinen Regierungsangelegenheiten erklärt ebensowenig, denn eben dieser fortschreitende Charakter soll erklärt werden.

    In dem Zusatz trägt Hegel zwar nichts zur Lösung der Schwierigkeiten bei. Wohl aber stellt er sie noch klarer heraus.

    »Die Verfassung muß an und für sich der feste geltende Boden sein, auf dem die gesetzgebende Gewalt steht, und sie muß deswegen nicht erst gemacht werden. Die Verfassung ist also, aber ebenso wesentlich wird sie, das heißt, sie schreitet in der Bildung fort. Dieses Fortschreiten ist eine Veränderung, die unscheinbar ist und nicht die Form der Veränderung hat.«

    Das heißt, die Verfassung ist dem Gesetz (der Illusion) nach, aber sie wird der Wirklichkeit (der Wahrheit) nach. Sie ist ihrer Bestimmung nach unveränderlich, aber sie verändert sich wirklich, nur ist diese Veränderung unbewußt, sie hat nicht die Form der Veränderung. Der Schein widerspricht dem Wesen. Der Schein ist das bewußte Gesetz der Verfassung, und das Wesen ist ihr bewußtloses, dem ersten widersprechendes Gesetz. Es ist nicht im Gesetz, was in der Natur der Sache ist. Es ist vielmehr das Gegenteil im Gesetz.

    Ist das nun das Wahre, daß im Staat, nach Hegel dem höchsten Dasein der Freiheit, dem Dasein der selbstbewußten Vernunft, nicht das Gesetz, das Dasein der Freiheit, sondern die blinde Naturnotwendigkeit herrscht? Und wenn nun das Gesetz der Sache als widersprechend der gesetzlichen Definition erkannt wird, warum nicht das Gesetz der Sache, der Vernunft auch |259| das Staatsgesetz anerkennen, wie nun den Dualismus mit Bewußtsein festhalten? Hegel will überall den Staat als die Verwirklichung des freien Geistes darstellen, aber re vera |in Wirklichkeit| löst er alle schwierigen Kollisionen durch eine Naturnotwendigkeit, die im Gegensatz zur Freiheit steht. So ist auch der Übergang des Sonderinteresses in das Allgemeine kein bewußtes Staatsgesetz, sondern per Zufall vermittelt, wider das Bewußtsein sich vollziehend, und Hegel will überall im Staat die Realisation des freien Willens! (Hierin zeigt sich der substantielle Standpunkt Hegels.)

    Die Beispiele, die Hegel über die allmähliche Veränderung der Verfassung anfuhrt sind unglücklich gewählt. So, daß das Vermögen der deutschen Fürsten und ihrer Familien aus Privatgut in Staatsdomäne, das persönliche Rechtsprechen der deutschen Kaiser in Rechtsprechen durch Abgeordnete sich verwandelt hat. Der erste Übergang hat sich nur so gemacht, daß alles Staatseigentum sich in fürstliches Privateigentum umsetzte.

    Dabei sind diese Veränderungen partikular. Ganze Staatsverfassungen haben sich allerdings so verändert, daß nach und nach neue Bedürfnisse entstanden, daß das Alte zerfiel etc.; aber zu der neuen Verfassung hat es immer einer förmlichen Revolution bedurft.

    »So ist also die Fortbildung eines Zustandes«, schließt Hegel, »eine scheinbar ruhige und unbemerkte. Nach langer Zeit kommt auf diese Weise eine Verfassung zu einem ganz anderen Zustande als vorher.«

    Die Kategorie des allmählichen Überganges ist erstens historisch falsch, und zweitens erklärt sie nichts.

    Damit der Verfassung nicht nur die Veränderung angetan wird, damit also dieser illusorische Schein nicht zuletzt gewaltsam zertrümmert wird, damit der Mensch mit Bewußtsein tut, was er sonst ohne Bewußtsein durch die Natur der Sache gezwungen wird zu tun, ist es notwendig, daß die Bewegung der Verfassung, daß der Fortschritt zum Prinzip der Verfassung gemacht wird, daß also der wirkliche Träger der Verfassung, das Volk, zum Prinzip der Verfassung gemacht wird. Der Fortschritt selbst ist dann die Verfassung.

    Soll also die »Verfassung« selbst in den Bereich der »gesetzgebenden Gewalt« gehören? Diese Frage kann nur aufgeworfen werden, 1. wenn der politische Staat als bloßer Formalismus des wirklichen Staats existiert, wenn der politische Staat eine aparte Domäne ist, wenn der politische Staat als »Verfassung« existiert; 2. wenn die gesetzgebende Gewalt anderen Ursprungs ist als die Regierungsgewalt etc.

    |260| Die gesetzgebende Gewalt hat die französische Revolution gemacht; sie hat überhaupt, wo sie in ihrer Besonderheit als das Herrschende auftrat, die großen organischen allgemeinen Revolutionen gemacht; sie hat nicht die Verfassung, sondern eine besondre antiquierte Verfassung bekämpft, eben weil die gesetzgebende Gewalt der Repräsentant des Volkes, des Gattungswillens war. Die Regierungsgewalt dagegen hat die kleinen Revolutionen, die retrograden Revolutionen, die Reaktionen gemacht; sie hat nicht für eine neue Verfassung gegen eine alte, sondern gegen die Verfassung revolutioniert, eben weil die Regierungsgewalt der Repräsentant des besonderen Willens, der subjektiven Willkür, des magischen Teils des Willens war.

    Wird die Frage richtig gestellt, so heißt sie nur: Hat das Volk das Recht, sich eine neue Verfassung zu geben? Was unbedingt bejaht werden muß, indem die Verfassung, sobald sie aufgehört hat, wirklicher Ausdruck des Volkswillens zu sein, eine praktische Illusion geworden ist.

    Die Kollision zwischen der Verfassung und der gesetzgebenden Gewalt ist nichts als ein Konflikt der Verfassung mit sich selbst, ein Widerspruch im Begriff der Verfassung.

    Die Verfassung ist nichts als eine Akkommodation zwischen dem politischen und unpolitischen Staat; sie ist daher notwendig in sich selbst ein Traktat wesentlich heterogener Gewalten. Hier ist es also dem Gesetz unmöglich, auszusprechen, daß eine dieser Gewalten, ein Teil der Verfassung, das Recht haben solle, die Verfassung selbst, das Ganze, zu modifizieren.

    Soll von der Verfassung als einem Besondern gesprochen werden, so muß sie vielmehr als ein Teil des Ganzen betrachtet werden.

    Wurden unter der Verfassung die allgemeinen Bestimmungen, die Fundamentalbestimmungen des vernünftigen Willens, verstanden, so versteht sich, daß jedes Volk (Staat) dies zu seiner Voraussetzung hat und daß sie sein politisches Credo bilden müssen. Das ist eigentlich Sache des Wissens und nicht des Willens. Der Wille eines Volks kann ebensowenig über die Gesetze der Vernunft hinaus als der Wille eines Individuums. Bei einem unvernünftigen Volk kann überhaupt nicht von einer vernünftigen Staatsorganisation die Rede sein. Hier in der Rechtsphilosophie ist überdem der Gattungswille unser Gegenstand.

    Die gesetzgebende Gewalt macht das Gesetz nicht, sie entdeckt und formuliert es nur.

    Man hat diese Kollision zu lösen gesucht durch die Unterscheidung zwischen assemblée constituante und assemblée constituée |konstituierende Versammlung und konstituierte Versammlung|.

  2. Avatar von Eduard Gans
    Eduard Gans

    Die Verfassung muß an und für sich der feste geltende Boden sein, auf dem die gesetzgebende Gewalt steht, und sie muß deswegen nicht erst gemacht werden. Die Verfassung ist also, aber ebenso wesentlich wird sie, das heißt, sie schreitet in der Bildung fort. Dieses Fortschreiten ist eine Veränderung, die unscheinbar ist und nicht die Form der Veränderung hat. Wenn z. B. das Vermögen der Fürsten und ihrer Familien in Deutschland zunächst Privatgut war, dann aber ohne Kampf und Widerstand sich in Domänen, das heißt in Staatsvermögen verwandelte, so kam dies daher, weil die Fürsten das Bedürfnis der Ungeteiltheit der Güter fühlten, von Land und Landständen die Garantie derselben forderten und so diese mit in die Art und Weise des Bestehens des Vermögens verwickelten, über das sie nun nicht mehr alleinige Disposition hatten. Auf ähnliche Weise war früher der Kaiser Richter und zog im Reiche Recht sprechend umher. Durch den bloß scheinbaren Fortgang der Bildung ist es äußerlich notwendig geworden, daß der Kaiser mehr und mehr anderen dies Richteramt überließ, und so machte sich der Übergang der richterlichen Gewalt von der Person des Fürsten auf Kollegien. So ist also die Fortbildung eines Zustandes eine scheinbar ruhige und unbemerkte. Nach langer Zeit kommt auf diese Weise eine Verfassung zu einem ganz anderen Zustand als vorher.

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