317

Die öffentliche Meinung enthält daher in sich die ewigen substantiellen Prinzipien der Gerechtigkeit, den wahrhaften Inhalt und das Resultat der ganzen Verfassung, Gesetzgebung und des allgemeinen Zustandes überhaupt, in Form des gesunden Menschenverstandes, als der durch alle in Gestalt von Vorurteilen hindurchgehenden sittlichen Grundlage, sowie die wahrhaften Bedürfnisse und richtigen Tendenzen der Wirklichkeit. – Zugleich wie dies Innere ins Bewußtsein tritt und in allgemeinen Sätzen zur Vorstellung kommt, teils für sich, teils zum Behuf des konkreten Räsonierens über Begebenheiten, Anordnungen und Verhältnisse des Staats und gefühlte Bedürfnisse, so tritt die ganze Zufälligkeit des Meinens, seine Unwissenheit und Verkehrung, falsche Kenntnis und Beurteilung ein. Indem es dabei um das Bewußtsein der Eigentümlichkeit der Ansicht und Kenntnis zu tun ist, so ist eine Meinung, je schlechter ihr Inhalt ist, desto eigentümlicher; denn das Schlechte ist das in seinem Inhalte ganz Besondere und Eigentümliche, das Vernünftige dagegen das an und für sich Allgemeine, und das Eigentümliche ist das, worauf das Meinen sich etwas einbildet.

Es ist darum nicht für eine Verschiedenheit subjektiver Ansicht zu halten, wenn es das eine Mal heißt:

Vox populi, vox dei,

und das andere Mal (bei Ariosto1 z. B.):

Che’l Volgare ignorante ogn‘ un riprenda
E parli più di quel che meno intenda.2

Beides liegt zumal in der öffentlichen Meinung; – indem in ihr Wahrheit und endloser Irrtum so unmittelbar vereinigt ist, so ist es mit dem einen oder dem andern nicht wahrhafter Ernst. Womit es Ernst ist, dies kann schwer zu unterscheiden scheinen; in der Tat wird es dies auch sein, wenn man sich an die unmittelbare Äußerung der öffentlichen Meinung hält. Indem aber das Substantielle ihr Inneres ist, so ist es nur mit diesem wahrhaft Ernst; dies kann aber nicht aus ihr, sondern eben darum, weil es das Substantielle ist, nur aus und für sich selbst erkannt werden. Welche Leidenschaft in das Gemeinte auch gelegt sei und wie ernsthaft behauptet oder angegriffen und gestritten werde, so ist dies kein Kriterium über das, um was es in der Tat zu tun sei; aber dies Meinen würde am allerwenigsten sich darüber verständigen lassen, daß seine Ernsthaftigkeit nichts Ernstliches sei. – Ein großer Geist hat die Frage zur öffentlichen Beantwortung aufgestellt, ob es erlaubt sei, ein Volk zu täuschen3. Man mußte antworten, daß ein Volk über seine substantielle Grundlage, das Wesen und bestimmten Charakter seines Geistes sich nicht täuschen lasse, aber über die Weise, wie es diesen weiß und nach dieser Weise seine Handlungen, Ereignisse usf. beurteilt, – von sich selbst getäuscht wird.

  1. *Oder bei Goethe [„Sprichwörtliches“]:
    Zuschlagen kann die Masse,
    Da ist sie respektabel:
    Urteilen gelingt ihr miserabel. ↩︎
  2. Orlando furioso XXVIII, 1: „Daß das unwissende Volk einen jeden tadelt / Und am meisten von dem redet, wovon es am wenigsten versteht.“ ↩︎
  3. Friedrich II.; Preisfrage der Berliner Akademie von 1778, von d’Alembert angeregt. ↩︎

Kommentare

Eine Antwort zu „317“

  1. Avatar von Eduard Gans
    Eduard Gans

    Das Prinzip der modernen Welt fordert, daß, was jeder anerkennen soll, sich ihm als ein Berechtigtes zeige. Außerdem aber will jeder noch mitgesprochen und geraten haben. Hat er seine Schuldigkeit, das heißt sein Wort dazu getan, so läßt er sich nach dieser Befriedigung seiner Subjektivität gar vieles gefallen. In Frankreich hat die Freiheit der Rede immer weit weniger gefährlich als das Stummsein geschienen, weil das letztere fürchten ließ, man werde das, was man gegen eine Sache habe, bei sich behalten, während das Räsonnement den Ausgang und die Befriedigung nach einer Seite enthält, wodurch im übrigen die Sache leichter ihren Gang fortzugehen vermag.

Schreibe einen Kommentar