Theodor W. Adorno und Hegels Rechtsphilosophie

Aus „Vorlesungen über Negative Dialektik“, Suhrkamp Taschenbuch, Adornos Vorlesung im WiSe 1965:

S. 27-28: „In der Arithmetik lernt [man], daß minus mal minus plus sei oder, mit anderen Worten, daß die Negation der Negation die Position, das Positive, das Affirmative sei. Das ist tatsächlich eine der ebenfalls generell der Hegelschen Philosophie zugrunde liegenden Annahmen. […] 

„Der Gedanke, [den Hegel entwickelt] ist, […] daß das Subjekt, das als denkendes Subjekt gegebene Institutionen kritisiert, zunächst einmal das Moment der Befreiung des Geistes ist; und als ein solches Moment der Befreiung des Geistes auf seinem Wege von seinem bloßen Ansichsein zu seinem Fürsichsein die entscheidende Stufe darstellt. Das heißt: diese Stufe, die hier erreicht wird, in der der Geist den Objektivitäten, den gesellschaftlichen zumal, sich als ein Selbständiges und Kritisches gegenüberstellt, die wird zunächst als ein notwendiges Moment anerkannt. 

„Aber es wird von Hegel dem Geist vorgeworfen, daß er dabei selbst beschränkt, daß er dabei selbst borniert sei; daß er ein Moment, nämlich den Geist in seiner Abstraktheit, dabei zum allein wahren erhebe und darüber verkenne, daß diese abstrakte Subjektivität, deren Modell etwa das Subjekt der Kantischen reinen praktischen Vernunft ist, aber bis zu einem gewissen Grad auch die Fichtesche Subjektivität der freien Tathandlung, — daß also diese Subjektivität sich selber als ein bloßes Moment verabsolutiere; daß sie übersehe, daß sie sich selbst ihrer eigenen Substanz, ihren Formen, ihrem Dasein nach den objektiven Formen und dem objektiven Dasein der Gesellschaft verdanke; und daß sie eigentlich zu sich selbst komme nur, indem sie die scheinbar ihr als fremd, ja als repressiv gegenüberstehenden Institutionen als ihresgleichen verstünde, daß sie sie selber als Subjektivität verstünde und daß sie sie in ihrer Notwendigkeit verstünde. 

„So daß also eine der entscheidenden Wendungen, um nicht zu sagen: einer der entscheidenden Tricks der Hegelschen Philosophie darin besteht, daß die bloße fürsichseiende, das heißt: die kritisch denkende abstrakte, negative Subjektivität — hier kommt der Begriff der Negativität wesentlich herein —, sich selbst negieren, ihrer eigenen Beschränktheit innewerden müsse, um auf diese Weise in der Positivität ihrer Negation, nämlich in den Institutionen der Gesellschaft, des Staates, des objektiven, schließlich des absoluten Geistes, sich selber aufzuheben. 

„Das ist also etwa das Modell jener positiven Negativität: der Negation der Negation als neuer Position, wie sie als ein Modell die Hegelsche Philosophie erstellt.“

S. 30: „Nun hat Hegel mit Recht gezeigt, daß die Institution Kritik an der kritisierenden abstrakten Subjektivität sei, das heißt, daß sie notwendig ist, — und zwar, daß sie auch notwendig ist dafür, daß das Subjekt überhaupt sich selbst erhält. Das bloße Fürsichsein, die Unmittelbarkeit des Subjekts, das da glaubt, auf sich selbst gestellt zu sein, ist tatsächlich ein bloßer Trug. […] [Hegel] hat also, sage ich, den Schein des Ansichseins des Subjekts zerstört und dargetan, daß es selbst Moment der sozialen Objektivität ist. […] Es wäre eigentlich eine Theorie der Gesellschaft, wie wir sie heute meinen, ohne diese Hegelsche Einsicht überhaupt gar nicht möglich gewesen.“