101

Das Aufheben des Verbrechens ist insofern Wiedervergeltung, als sie dem Begriffe nach Verletzung der Verletzung ist und dem Dasein nach das Verbrechen einen bestimmten, qualitativen und quantitativen Umfang, hiermit auch dessen Negation als Dasein einen ebensolchen hat. Diese auf dem Begriffe beruhende Identität ist aber nicht die Gleichheit in der spezifischen, sondern in der an sich seienden Beschaffenheit der Verletzung – nach dem Werte derselben.

Da in der gewöhnlichen Wissenschaft die Definition einer Bestimmung, hier der Strafe, aus der allgemeinen Vorstellung der psychologischen Erfahrung des Bewußtseins genommen werden soll, so würde diese wohl zeigen, daß das allgemeine Gefühl der Völker und Individuen bei dem Verbrechen ist und gewesen ist, daß es Strafe verdiene und dem Verbrecher geschehen solle, wie er getan hat. Es ist nicht abzusehen, wie diese Wissenschaften, welche die Quelle ihrer Bestimmungen in der allgemeinen Vorstellung haben, das andere Mal einer solchen auch sogenannten allgemeinen Tatsache des Bewußtseins widersprechende Sätze annehmen. – Eine Hauptschwierigkeit hat aber die Bestimmung der Gleichheit in die Vorstellung der Wiedervergeltung hereingebracht; die Gerechtigkeit der Strafbestimmungen nach ihrer qualitativen und quantitativen Beschaffenheit ist aber ohnehin ein Späteres als das Substantielle der Sache selbst. Wenn man sich auch für dieses weitere Bestimmen nach anderen Prinzipien umsehen müßte als für das Allgemeine der Strafe, so bleibt dieses, was es ist. Allein der Begriff selbst muß überhaupt das Grundprinzip auch für das Besondere enthalten. Diese Bestimmung des Begriffs ist aber eben jener Zusammenhang der Notwendigkeit, daß das Verbrechen, als der an sich nichtige Wille, somit seine Vernichtung – die als Strafe erscheint – in sich selbst enthält. Die innere Identität ist es, die am äußerlichen Dasein sich für den Verstand als Gleichheit reflektiert. Die qualitative und quantitative Beschaffenheit des Verbrechens und seines Aufhebens fällt nun in die Sphäre der Äußerlichkeit; in dieser ist ohnehin keine absolute Bestimmung möglich (vergl. § 49); diese bleibt im Felde der Endlichkeit nur eine Forderung, die der Verstand immer mehr zu begrenzen hat, was von der höchsten Wichtigkeit ist, die aber ins Unendliche fortgeht und nur eine Annäherung zuläßt, die perennierend ist. – Übersieht man nicht nur diese Natur der Endlichkeit, sondern bleibt man auch vollends bei der abstrakten, spezifischen Gleichheit stehen, so entsteht nicht nur eine unübersteigliche Schwierigkeit, die Strafen zu bestimmen (vollends wenn noch die Psychologie die Größe der sinnlichenTriebfedern und die damit verbundene – wie man will – entweder um so größere Stärke des bösen Willens oder auch die um so geringere Stärke und Freiheit des Willens überhaupt herbeibringt), sondern es ist sehr leicht, die Wiedervergeltung der Strafe (als Diebstahl um Diebstahl, Raub um Raub, Aug um Aug, Zahn um Zahn, wobei man sich vollends den Täter als einäugig oder zahnlos vorstellen kann) als Absurdität darzustellen, mit der aber der Begriff nichts zu tun hat, sondern die allein jener herbeigebrachten spezifischen Gleichheit zu schulden kommt. Der Wert als das innere Gleiche von Sachen, die in ihrer Existenz spezifisch ganz verschieden sind, ist eine Bestimmung, die schon bei den Verträgen (s. oben), ingleichen in der Zivilklage gegen Verbrechen (§ 95) vorkommt und wodurch die Vorstellung aus der unmittelbaren Beschaffenheit der Sache in das Allgemeine hinübergehoben wird. Bei dem Verbrechen, als in welchem das Unendliche der Tat die Grundbestimmung ist, verschwindet das bloß äußerlich Spezifische um so mehr, und die Gleichheit bleibt nur die Grundregel für das Wesentliche, was der Verbrecher verdient hat, aber nicht für die äußere spezifische Gestalt dieses Lohns. Nur nach der letzteren sind Diebstahl, Raub und Geld-, Gefängnisstrafe usf. schlechthin Ungleiche, aber nach ihrem Werte, ihrer allgemeinen Eigenschaft, Verletzungen zu sein, sind sie Vergleichbare. Es ist dann, wie bemerkt, die Sache des Verstandes, die Annäherung an die Gleichheit dieses ihres Wertes zu suchen. Wird der an sich seiende Zusammenhang des Verbrechens und seiner Vernichtung und dann der Gedanke des Wertes und der Vergleichbarkeit beider nach dem Werte nicht gefaßt, so kann es dahin kommen, daß man (Klein, Grunds. des peinl. Rechts, § 9) in einer eigentlichen Strafe eine nur willkürliche Verbindung eines Übels mit einer unerlaubten Handlung sieht.

The annulment of the crime is retribution in so far as (a)
retribution in conception is an ‘injury of the injury’, and (b) since as
existent a crime is something determinate in its scope both
qualitatively and quantitatively, its negation as
existent is similarly
determinate. This identity rests on the concept, but it is not an
equality the specific character of the crime and that of its negation; on
the contrary, the two injuries are equal only in respect of their implicit
character, i.e. in respect of their ‘value’.

Kommentare

2 Antworten zu „101“

  1. Avatar von Eduard Gans
    Eduard Gans

    Die Wiedervergeltung ist der innere Zusammenhang und die Identität zweier Bestimmungen, die als verschieden erscheinen und auch eine verschiedene äußere Existenz gegeneinander haben. Indem dem Verbrecher vergolten wird, hat dies das Ansehen einer fremden Bestimmung, die ihm nicht angehört; aber die Strafe ist doch nur, wie wir gesehen haben, Manifestation des Verbrechens, das heißt die andere Hälfte, die die eine notwendig voraussetzt. Was die Wiedervergeltung zunächst gegen sich hat, ist, daß sie als etwas Unmoralisches, als Rache erscheint und daß sie so für ein Persönliches gelten kann. Aber nicht das Persönliche, sondern der Begriff führt die Wiedervergeltung selbst aus. „Die Rache ist mein“, sagt Gott in der Bibel, und wenn man in dem Worte Wiedervergeltung etwa die Vorstellung eines besonderen Beliebens des subjektiven Willens haben wollte, so muß gesagt werden, daß es nur die Umkehrung der Gestalt selbst des Verbrechens gegen sich bedeutet. Die Eumeniden schlafen, aber das Verbrechen weckt sie und so ist es die eigene Tat, die sich geltend macht. Wenn nun bei der Vergeltung nicht auf spezifische Gleichheit gegangen werden kann, so ist dies doch anders beim Morde, worauf notwendig die Todesstrafe steht. Denn da das Leben der ganze Umfang des Daseins ist, so kann die Strafe nicht in einem Werte, den es dafür nicht gibt, sondern wiederum nur in der Entziehung des Lebens bestehen.

  2. Avatar von Hegel
    Hegel

    [zu] § 101. Gesunder Menschenverstand[:] wie er getan hat, so soll ihm geschehen.
    Mit dem gesunden Menschenverstand sind die Juristen nicht mehr ausgekommen; – es wäre schon richtig, wenn sich nur erweisen, begreifen ließe –
    Wie er getan, so soll ihm geschehen, – innerer Zusammenhang – in Allgemeinheit, Vernunft – das in vorhergehendem §
    Wiedervergeltung drückt dies aus. Seite im vorherg. §.
    α) Wie er getan, soll ihm geschehen – Gesetztsein – es ist sein Wille, sein Gesetz. Das, was er getan, wird zu einer Macht, feindselig gegen ihn, – er hat sie erregt – die Eumeniden schlafen – treten erst hervor – gerufen. Es ist die eigene Tat, die sich an ihm geltend macht — das Allgemeine, wozu er jetzt das Besondere ist – vorher hat er einen andern darunter subsumiert – jetzt wird er darunter subsumiert. So hatte er es nicht gemeint – aber als Vernunft als Wille getan – Seine Besonderheit hat er nicht als Besonderheit angeschlagen – Verkehrung gegen ihn.
    Dies argumentum ad hominem – aus seinen Prinzipien Argumenten –
    Nur scheinend – subjektive besondere Seite – darum nicht an sich –
    β) Ad hominem – ob aber an sich?
    Nämlich
    α) ist ein positiver Wille, das Verbrechen, Verletzung der Freiheit – Dies läßt man in seinem Sinne gelten – Aber an sich ist es gerade das Gegenteil – Aus demselben Prinzip wird er gestraft – Unterschied nur, daß es gegen ihn – negativ – gekehrt wird; – es kommt ein Negatives an seinen Willen –
    formell, daß seine Tat allgemeine Regel, und daß er darunter subsumiert wird – dieser Zusammenhang, dieses Band erscheint als ein äußerliches. – Ansich ist der Inhalt – Positives, die Tat – Verkehrung in negativer Gestalt – Erscheinung.*
    Aber
    β) an sich, schon zuerst ist die Handlung nichtig – Säure, Kali – jene schon an sich neutral, so dieses.
    Allgemeinheit der Bestimmtheit im Menschen – Soll bestimmt erhalten, was er getan – dieser Umfang der Nichtigkeit, soll manifestiert werden.
    (Wiedervergeltung als etwas Persönliches unmoralisch – nur Gesetz soll strafen … )

    [zu § 101 Anm.]
    Moralische Seite – Schuld – Freiheit, Wollen als Inneres der Handlung – Ihr Umfang in dieser Rücksicht gehört dorthin –

    *[am Rande:] α) ist Erscheinung wegen [?] Gegensatz – αα) positive Tat Wille, ββ) negativ nachher, durch anderes, an ihn Kommendes.

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