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    Das Recht ist positiv überhaupt a) durch die Form, in einem Staate Gültigkeit zu haben, und diese gesetzliche Autorität ist das Prinzip für die Kenntnis desselben, die positive Rechtswissenschaft. b) Dem Inhalte nach erhält dies Recht ein positives Element α) durch den besonderen Nationalcharakter eines Volkes, die Stufe seiner geschichtlichen Entwicklung und den Zusammenhang aller der Verhältnisse, die der Naturnotwendigkeit angehören; β) durch die Notwendigkeit, daß ein System eines gesetzlichen Rechts die Anwendung des allgemeinen Begriffes auf die besondere von außen sich gebende Beschaffenheit der Gegenstände und Fälle enthalten muß – eine Anwendung, die nicht mehr spekulatives Denken und Entwicklung des Begriffes, sondern Subsumtion des Verstandes ist; γ) durch die für die Entscheidung in der Wirklichkeit erforderlichen letzten Bestimmungen.

    Wenn dem positiven Rechte und den Gesetzen das Gefühl des Herzens, Neigung und Willkür entgegengesetzt wird, so kann es wenigstens nicht die Philosophie sein, welche solche Autoritäten anerkennt. – Daß Gewalt und Tyrannei ein Element des positiven Rechts sein kann, ist demselben zufällig und geht seine Natur nicht an. Es wird späterhin, § 211214, die Stelle aufgezeigt werden, wo das Recht positiv werden muß. Hier sind die daselbst sich ergeben werdenden Bestimmungen nur angeführt worden, um die Grenze des philosophischen Rechts zu bezeichnen und um sogleich die etwaige Vorstellung oder gar Forderung zu beseitigen, als ob durch dessen systematische Entwicklung ein positives Gesetzbuch, d. i. ein solches, wie der wirkliche Staat eines bedarf, herauskommen solle. – Daß das Naturrecht oder das philosophische Recht vom positiven verschieden ist, dies darein zu verkehren, daß sie einander entgegengesetzt und widerstreitend sind, wäre ein großes Mißverständnis; jenes ist zu diesem vielmehr im Verhältnis von Institutionen zu Pandekten. – In Ansehung des im Paragraphen zuerst genannten geschichtlichen Elements im positiven Rechte hat Montesquieu die wahrhafte historische Ansicht, den echt philosophischen Standpunkt angegeben, die Gesetzgebung überhaupt und ihre besonderen Bestimmungen nicht isoliert und abstrakt zu betrachten, sondern vielmehr als abhängiges Moment einer Totalität, im Zusammenhange mit allen übrigen Bestimmungen, welche den Charakter einer Nation und einer Zeit ausmachen; in diesem Zusammenhange erhalten sie ihre wahrhafte Bedeutung sowie damit ihre Rechtfertigung. – Das in der Zeit erscheinende Hervortreten und Entwickeln von Rechtsbestimmungen zu betrachten, diese rein geschichtliche Bemühung, sowie die Erkenntnis ihrer verständigen Konsequenz, die aus der Vergleichung derselben mit bereits vorhandenen Rechtsverhältnissen hervorgeht, hat in ihrer eigenen Sphäre ihr Verdienst und ihre Würdigung und steht außer dem Verhältnis mit der philosophischen Betrachtung, insofern nämlich die Entwicklung aus historischen Gründen sich nicht selbst verwechselt mit der Entwicklung aus dem Begriffe und die geschichtliche Erklärung und Rechtfertigung nicht zur Bedeutung einer an und für sich gültigen Rechtfertigung ausgedehnt wird. Dieser Unterschied, der sehr wichtig und wohl festzuhalten ist, ist zugleich sehr einleuchtend; eine Rechtsbestimmung kann sich aus den Umständen und vorhandenen Rechtsinstitutionen als vollkommen gegründet und konsequent zeigen lassen und doch an und für sich unrechtlich und unvernünftig sein, wie eine Menge der Bestimmungen des römischen Privatrechts, die aus solchen Institutionen als die römische väterliche Gewalt, der römische Ehestand ganz konsequent flossen. Es seien aber auch die Rechtsbestimmungen rechtlich und vernünftig, so ist es etwas ganz anderes, dies von ihnen aufzuzeigen, was allein durch den Begriff wahrhaftig geschehen kann, und ein anderes, das Geschichtliche ihres Hervortretens darzustellen, die Umstände, Fälle, Bedürfnisse und Begebenheiten, welche ihre Feststellung herbeigeführt haben. Ein solches Aufzeigen und (pragmatisches) Erkennen aus den näheren oder entfernteren geschichtlichen Ursachen heißt man häufig: Erklären oder noch lieber Begreifen, in der Meinung, als ob durch dieses Aufzeigen des Geschichtlichen alles oder vielmehr das Wesentliche, worauf es allein ankomme, geschehe, um das Gesetz oder Rechtsinstitution zu begreifen, während vielmehr das wahrhaft Wesentliche, der Begriff der Sache, dabei gar nicht zur Sprache gekommen ist. – Man pflegt so auch von den römischen, germanischen Rechtsbegriffen, von Rechtsbegriffen, wie sie in diesem oder jenem Gesetzbuche bestimmt seien, zu sprechen, während dabei nichts von Begriffen, sondern allein allgemeine Rechtsbestimmungen, Verstandessätze, Grundsätze, Gesetze u. dgl. vorkommen. – Durch Hintansetzung jenes Unterschiedes gelingt es, den Standpunkt zu verrücken und die Frage nach der wahrhaften Rechtfertigung in eine Rechtfertigung aus Umständen, Konsequenz aus Voraussetzungen, die für sich etwa ebensowenig taugen usf., hinüberzuspielen und überhaupt das Relative an die Stelle des Absoluten, die äußerliche Erscheinung an die Stelle der Natur der Sache zu setzen. Es geschieht der geschichtlichen Rechtfertigung, wenn sie das äußerliche Entstehen mit dem Entstehen aus dem Begriffe verwechselt, daß sie dann bewußtlos das Gegenteil dessen tut, was sie beabsichtigt. Wenn das Entstehen einer Institution unter ihren bestimmten Umständen sich vollkommen zweckmäßig und notwendig erweist und hiermit das geleistet ist, was der historische Standpunkt erfordert, so folgt, wenn dies für eine allgemeine Rechtfertigung der Sache selbst gelten soll, vielmehr das Gegenteil, daß nämlich, weil solche Umstände nicht mehr vorhanden sind, die Institution hiermit vielmehr ihren Sinn und ihr Recht verloren hat. 12)  So, wenn z. B. für Aufrechthaltung der Klöster ihr Verdienst um Urbarmachung und Bevölkerung von Wüsteneien, um Erhaltung der Gelehrsamkeit durch Unterricht und Abschreiben usf. geltend gemacht und dies Verdienst als Grund und Bestimmung für ihr Fortbestehen angesehen worden ist, so folgt aus demselben vielmehr, daß sie unter den ganz veränderten Umständen, insoweit wenigstens, überflüssig und unzweckmäßig geworden sind. – Indem nun die geschichtliche Bedeutung, das geschichtliche Aufzeigen und Begreiflichmachen des Entstehens und die philosophische Ansicht gleichfalls des Entstehens und Begriffes der Sache in verschiedenen Sphären zu Hause sind, so können sie insofern eine gleichgültige Stellung gegeneinander behalten. Indem sie aber, auch im Wissenschaftlichen, diese ruhige Stellung nicht immer behalten, so führe ich noch etwas diese Berührung Betreffendes an, wie es in Herrn [Gustav] Hugos Lehrbuch der Geschichte des römischen Rechts [1799] erscheint, woraus zugleich eine weitere Erläuterung jener Manier des Gegensatzes hervorgehen kann. Herr Hugo führt daselbst (5. Auflage [1818], § 53) an, ‘daß Cicero die zwölf Tafeln, mit einem Seitenblicke auf die Philosophen, [handschriftliche Notiz § 3 (a)] lobe’, ‘der Philosoph Favorinus aber sie ganz ebenso behandle, wie seitdem schon mancher große Philosoph das positive Recht behandelt habe’. Herr Hugo spricht ebendaselbst die ein für allemal fertige Erwiderung auf solche Behandlung in dem Grunde aus, ‘weil Favorinus die zwölf Tafeln ebensowenig als die Philosophen das positive Recht verstanden‘. – Was die Zurechtweisung des Philosophen Favorinus durch den Rechtsgelehrten Sextus Caecilius bei Gellius, Noctes Atticae, XX, 1 [22 f.], betrifft, so spricht sie zunächst das bleibende und wahrhafte Prinzip der Rechtfertigung des seinem Gehalte nach bloß Positiven aus. “Non ignoras”, sagt Caecilius sehr gut zu Favorinus, “legum opportunitates et medelas pro temporum moribus et pro rerum publicarum generibus, ac pro utilitatum praesentium rationibus, proque vitiorum, quibus medendum est, fervoribus, mutari ac flecti, neque uno statu consistere, quin, ut facies coeli et maris, ita rerum atque fortunae tempestatibus varientur. Quid salubrius visum est rogatione illa Stolonis … , quid utilius plebiscito Voconio … , quid tam necessarium existimatum est … , quam lex Licinia … ? Omnia tamen haec obliterata et operta sunt civitatis opulentia … “13)  Diese Gesetze sind insofern positiv, als sie ihre Bedeutung und Zweckmäßigkeit in den Umständen, somit nur einen historischen Wert überhaupt haben; deswegen sind sie auch vergänglicher Natur. Die Weisheit der Gesetzgeber und Regierungen in dem, was sie für vorhandene Umstände getan und für Zeitverhältnisse festgesetzt haben, ist eine Sache für sich und gehört der Würdigung der Geschichte an, von der sie um so tiefer anerkannt werden wird, je mehr eine solche Würdigung von philosophischen [handschriftliche Notiz § 3 (b)] Gesichtspunkten unterstützt ist. – Von den ferneren Rechtfertigungen der zwölf Tafeln gegen den Favorinus aber will ich ein Beispiel anführen, weil Caecilius dabei den unsterblichen Betrug der Methode des Verstandes und seines Räsonierens anbringt, nämlich für eine schlechte Sache einen guten Grund anzugeben und zu meinen, sie damit gerechtfertigt zu haben. Für das abscheuliche Gesetz, welches dem Gläubiger nach den verlaufenen Fristen das Recht gab, den Schuldner zu töten oder ihn als Sklaven zu verkaufen, ja, wenn der Gläubiger mehrere waren, von ihm sich Stücke abzuschneiden und ihn so unter sich zu teilen, und zwar so, daß, wenn einer zu viel oder zu wenig abgeschnitten hätte, ihm kein Rechtsanteil daraus entstehen sollte (eine Klausel, welche Shakespeares Shylock, im Kaufmann von Venedig, zugute gekommen und von ihm dankbarst akzeptiert worden wäre), – führt Caecilius den guten Grund an, daß Treu und Glauben dadurch um so mehr gesichert [seien] und es eben, um der Abscheulichkeit des Gesetzes willen, nie zur Anwendung desselben habe kommen sollen. Seiner Gedankenlosigkeit entgeht dabei nicht bloß die Reflexion, daß eben durch diese Bestimmung jene Absicht, die Sicherung der Treu und des Glaubens, vernichtet wird, sondern daß er selbst unmittelbar darauf ein Beispiel von der durch seine unmäßige Strafe verfehlten Wirkung des Gesetzes über die falschen Zeugnisse anführt. – Was aber Herr [handschriftliche Notiz § 3 (c)] Hugo damit will, daß Favorinus das Gesetz nicht verstanden habe, ist nicht abzusehen; jeder Schulknabe ist wohl fähig, es zu verstehen, und am besten würde der genannte Shylock auch noch die angeführte, für ihn so vorteilhafte Klausel verstanden haben; – unter Verstehen müßte Herr Hugo nur diejenige Bildung des Verstandes meinen, welche sich bei einem solchen Gesetze durch einen guten Grund beruhigt. – Ein anderes ebendaselbst dem Favorinus vom Caecilius nachgewiesenes Nichtverstehen kann übrigens ein Philosoph schon, ohne eben schamrot zu werden, eingestehen, – daß nämlich iumentum, welches nur, ‘und nicht eine arcera‘, nach dem Gesetze einem Kranken, um ihn als Zeugen vor Gericht zu bringen, zu leisten sei, nicht nur ein Pferd, sondern auch eine Kutsche oder Wagen bedeutet haben soll. Caecilius konnte aus dieser gesetzlichen Bestimmung einen weiteren Beweis von der Vortrefflichkeit und Genauigkeit der alten Gesetze ziehen, daß sie sich nämlich sogar darauf einließen, für die Sistierung eines kranken Zeugen vor Gericht die Bestimmung nicht bloß bis zum Unterschiede von einem Pferde und einem Wagen, sondern von Wagen und Wagen, einem bedeckten und ausgefütterten, wie Caecilius erläutert, und einem, der nicht so bequem ist, zu treiben. Man hätte hiermit die Wahl zwischen der Härte jenes Gesetzes oder der Unbedeutendheit solcher Bestimmungen, – aber die Unbedeutendheit von solchen Sachen und vollends von den gelehrten Erläuterungen derselben auszusagen, würde einer der größten Verstöße gegen diese und andere Gelehrsamkeit sein.
    Herr Hugo kommt aber auch im angeführten Lehrbuche auf die Vernünftigkeit in Ansehung des römischen Rechts zu sprechen; was mir davon aufgestoßen ist, ist folgendes. Nachdem derselbe in der Abhandlung des Zeitraums von Entstehung des Staats bis auf die zwölf Tafeln § 38 und 39 gesagt, ‘daß man (in Rom) viele Bedürfnisse gehabt und genötigt war, zu arbeiten, wobei man als Gehilfen Zug- und Lasttiere brauchte, wie sie bei uns vorkommen, daß der Boden eine Abwechslung von Hügeln und Tälern war und die Stadt auf einem Hügel lag usw.’ – Anführungen, durch welche vielleicht der Sinn Montesquieus hat erfüllt sein sollen, wodurch man aber schwerlich seinen Geist getroffen finden wird -, so führt er nun § 40 zwar an, ‘daß der rechtliche Zustand noch sehr weit davon entfernt war, den höchsten Forderungen der Vernunft ein Genüge zu tun’ (ganz richtig; das römische Familienrecht, die Sklaverei usf. tut auch sehr geringen Forderungen der Vernunft kein Genüge), aber bei den folgenden Zeiträumen vergißt Herr Hugo anzugeben, in welchem und ob in irgendeinem derselben das römische Recht den höchsten Forderungen der Vernunft Genüge geleistet habe. Jedoch von den juristischen Klassikern, in dem Zeitraume der höchsten Ausbildung des römischen Rechts als Wissenschaft, wird § 289 gesagt, ‘daß man schon lange bemerkt, daß die juristischen Klassiker durch Philosophie gebildet waren’; aber ‘wenige wissen (durch die vielen Auflagen des Lehrbuchs des Herrn Hugo wissen es nun doch mehrere), daß es keine Art von Schriftstellern gibt, die im konsequenten Schließen aus Grundsätzen so sehr verdienten, den Mathematikern und, in einer ganz auffallenden Eigenheit der Entwicklung der Begriffe, dem neueren Schöpfer der Metaphysik an die Seite gesetzt zu werden, als gerade die römischen Rechtsgelehrten: letzteres belege der merkwürdige Umstand, daß nirgend so viele Trichotomien vorkommen als bei den juristischen Klassikern und bei Kant‘. – Jene von Leibniz gerühmte Konsequenz ist gewiß eine wesentliche Eigenschaft der Rechtswissenschaft, wie der Mathematik und jeder anderen verständigen Wissenschaft; aber mit der Befriedigung der Forderungen der Vernunft und mit der philosophischen Wissenschaft hat diese Verstandeskonsequenz noch nichts zu tun. Außerdem ist aber wohl die Inkonsequenz der römischen Rechtsgelehrten und der Prätoren als eine ihrer größten Tugenden zu achten, als durch welche sie von ungerechten und abscheulichen Institutionen abwichen, aber sich genötigt sahen, callide leere Wortunterschiede (wie das, was doch auch Erbschaft war, eine Bonorum possessio zu nennen) und eine selbst alberne Ausflucht (und Albernheit ist gleichfalls eine Inkonsequenz) zu ersinnen, um den Buchstaben der Tafeln zu retten, wie durch die fictio, ὑπόϰϱισις, eine filia sei ein filius (Heineccius, Antiquitatum Romanarum liber I [Frankfurt 1771], tit. II, § 24). – Possierlich aber ist es, die juristischen Klassiker wegen einiger trichotomischer Einteilungen – vollends nach den daselbst Anm. 5 angeführten Beispielen – mit Kant zusammengestellt und so etwas Entwicklung der Begriffe geheißen zu sehen.